Naerrisches Prag
vielen Wochen endlich eine Wendung ein. Ich durfte manchmal ausländische Gäste des tschechoslowakischen Friedenskomitees begleiten und für sie dolmetschen.
Eines Tages war es eine Gruppe britischer Labour-Abgeordneter, die zu einem kurzen Aufenthalt in Prag weilten. Am Tag ihrer Heimkehr wurden sie nach einem feierlichen Abschiedsessen mit einem Minibus zum Flughafen gebracht, begleitet von ihren beiden Übersetzern, von denen einer ich war.
Im Wagen saß neben mir eine ältere, sehr sympathische Dame, die Bürgermeisterin der Stadt Leeds. Wir hatten uns im Laufe ihres Besuches angefreundet und plauderten unterwegs angeregt. Auf einmal stutzte ich, brachte kein Wort heraus, starrte wie gebannt aus dem Busfenster.
Wir kamen in diesem Augenblick an einem Komplex eintönig mit schmutzigem Ocker getünchter Gebäude mit durchwegs vergitterten Fenstern vorbei. Aus ihrer Mitte ragte wuchtig ein vieleckiger Turm. Den hatte ich doch schon irgendwann gesehen? Gewiß nur flüchtig, mit gestrecktem Hals bei einem meiner drei »Lüftungsgänge«, als ich ...
Mein Gott! So also sieht die Haftanstalt von außen aus! Wir passierten gerade die große Einfahrt in den Komplex, und weil der Wagen verlangsamt eine Biegung nahm,konnte ich auf einer weißen Tafel auf dem Tor in dicken schwarzen Buchstaben die Aufschrift lesen: »Zweck-Wirtschaft«. Zweck ...?
Irgendwo in der Nähe muhte eine Kuh. Diese für eine Stadt etwas ungewöhnlichen Töne hatte ich hier vor Jahren auch gehört, konnte sie mir damals nicht erklären. Jetzt aber stockte mir der Atem. Da fuhr ich nun mit einer Abgeordnetengruppe aus dem »imperialistischen Großbritannien« an dem Gefängnis vorbei, in dem ich ... Kann so etwas gut ausgehen? Wird nicht im nächsten Augenblick etwas ganz Fürchterliches geschehen?
»Are you allright?« fragte die sympathische Lady aus Leeds besorgt und griff beruhigend nach meiner Hand. Offenbar war ich erblaßt.
»Thank you, I am fine«, sagte ich, und das war auch schon wieder wahr, denn inzwischen waren wir ein gutes Stück weitergefahren, und nichts Schlimmes war passiert.
Der zweite Dolmetscher, der auch auf böse Erfahrungen zurückblicken konnte, wenngleich auf weniger dramatische als ich, lächelte mir ein bißchen konspirativ zu.
»Du bist vorhin beim Vorbeifahren ganz schön erschrocken, was? War auch eine ziemlich kuriose Situation. Aber, Mädchen, wir sind doch in Prag! Hast du Kafka nicht gelesen?«
Auf solche Weise war ich zum erstenmal mit offenen Augen an dem Gefängnis vorbeigekommen. Ich hatte aber den dringenden Wunsch, diese Einrichtung einmal von innen zu sehen. Warum das für mich so wichtig war, weiß ich kaum zu erklären.
»Du bist verrückt«, meinte fast jeder, wenn ich diese meine Absicht erwähnte. »Die endlosen Monate haben dir nicht genügt? Sei froh, daß du das scheußliche Kapitelhinter dich gebracht hast, und vergiß das Ganze lieber.« Aber um es »hinter mir« zu haben, mußte ich erst einmal auch dieses grausige Stück Prag richtig gesehen haben. Närrisch? Vielleicht.
Später bin ich an dem großen Gebäudekomplex übrigens oft vorbeigefahren, denn er liegt eben an einem der Wege zum Prager Flughafen. Immer gibt es in mir einen kleinen Ruck, wenn ich unterwegs nach Deutschland, England, Frankreich oder gar Amerika vor dem Abflug an diesem vieleckigen Turm vorbeikomme. Jetzt erschrecke ich nicht mehr, halte sogar nach ihm Ausschau. Aber eine gewisse Beklemmung befiel mich immer noch. Wie sieht es hinter dem großen Tor aus? Wieso weiß ich das nicht? Ich muß es doch wissen, damit das schwarze Loch in mir weggewischt wird.
Das Pariser Frauengefängnis La Petite Roquette, dessen Insasse ich am Anfang des letzten Weltkrieges sechs Monate lang war, wurde vor ein paar Jahren niedergerissen. Aus der Marseiller Internierungseinrichtung Bompard, dem einstigen Etablissement übelsten Rufes, entstand im Laufe der Jahre eine Kette luxuriöser Hotels, die merkwürdigerweise den profanierten Namen beibehielten. Im Wüstenlager Oued-Zem am Rande der marokkanischen Sahara, das ich gleichfalls als unfreiwilliger Gast kennenlernen mußte, wird keine einzige zivile Person mehr festgehalten. Das Prager Untersuchungsgefängnis Ruzyně funktioniert weiterhin, und nach jahrelangem Warten und aussichtslosen Versuchen durfte ich es eines Tages in der Tat von innen kennenlernen. Der Vermittler und mein Begleiter war in diesem Fall ein befreundeter Fernsehregisseur, freilich ohne Kamera und Tongerät.
Am
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