Naerrisches Prag
Zeit, sondern in einer Ecke eine durch eine niedrige Mauer etwas abgesonderte normale Klosettschüssel. Na Gott sei Dank!
»In den fünfziger Jahren war das anders?« staunte die junge Frau, die mich aufmerksam beobachtete.
»Ganz anders. Kann ich hier irgendwo durch ein Fenster blicken?«
»Aber selbstverständlich«, staunte sie weiter, konnte sich gewiß nicht vorstellen, daß ich an diesem Ort zum erstenmal an einem Fenster stand und hinausschauen durfte.
Hinter den großen Gebäuden sah ich die Schmalspurgeleise einer kleinen Eisenbahnlinie, weiter hinten einen Kuhstall (Zweck-Wirtschaft!), ein Stück Feld, ganz hinten Häuser. Gewöhnliches, alltägliches Leben mit seinen Sorgen und Freuden, die einem aber in den großen Gebäuden an seinem Rande allesamt verwehrt sind.
Die Sprecherin hielt einen dicken Schlüsselbund in den Händen, trippelte uns voraus, schloß Korridortüren und Treppenaufgänge auf. Ich sah mich ständig um, hatte jedoch nicht das Gefühl, in »meinem« einstigen Korridor zu sein. Erst ein paar Wochen nach diesem denkwürdigen Besuch erfuhr ich durch einen Zufall, daß die Einrichtung, in der ich meine Gefangenenzeit verbringen mußte, ursprünglich als Bierbrauerei errichtet und erst im Jahre 1934 zu einem Gefängnis umgestaltet wurde. Das Gebäude, in dem man mich festhielt, dient nunmehr als Strafanstalt und ist für jegliche Besucher unzugänglich. Was ich besichtigen durfte, war das Untersuchungsgefängnis in einem Nebengebäude. Aber immerhin.
Bei unserem Rundgang durch die Anstalt brachte uns die freundliche Frau auch in die Abteilung für jugendliche Häftlinge. Abermals staunte ich. Eine ganze Abteilung für junge Untersuchungshäftlinge? Gab es immer noch keine andere Möglichkeit für unreife Anfangssünder?
Bei jeder Biegung der freudlosen Korridore, bei jeder Stufe hinauf oder hinunter, erwartete ich, dem Wesen zu begegnen, das gleichzeitig an drei Tischen zu sitzen versteht. Hier hätte es mich nicht aus den Augen lassen sollen, als eine Art Beschützer für jeden Fall. Denn es war unheimlich, frei durch ein Gefängnis zu wandern, in dem ich so unfrei gewesen bin wie niemals sonst in meinemLeben. In Franz Kafkas Roman »Der Prozeß« las ich vor Jahren, wie »ein Mann vom Lande um Eintritt in das Gesetz bittet«. War es etwa ein ähnliches Verlangen, das mich veranlaßt hat, diesen sonderbaren Besuch zu unternehmen?
»So, jetzt betreten wir die Abteilung für Jugendliche«, erläuterte die Frau im geblümten Kleid, indem sie die Tür zu einer weiteren Etage aufschloß. Ich zögerte ein bißchen, wäre in diesem Augenblick am liebsten unsichtbar geworden. Aber da kam schon eine rundliche weibliche Person in blau-grauer Aufseherinnenuniform auf mich zu. Ihr freundliches Gesicht, die geradezu mütterliche Art, wie sie über die ihr anvertrauten jungen Missetäter sprach, wirkten angenehm in der schroffen Umgebung.
»Manche unserer Jungen sind erst fünfzehn Jahre alt«, berichtete die Frau mit einem kleinen Seufzer, »und kommen meistens aus unvorstellbaren sozialen Verhältnissen. Diebstahl, Drogen, auch brutale Aggression gehören zu ihrem Alltag.«
Ein dünnes Bürschchen in der Anstaltsuniform – graue Trainingshose, weinrotes T-Shirt – wurde an uns vorbeigeführt. Sein Blick war starr auf den Boden geheftet, die Körperhaltung erschien mir nicht trotzig, eher stumpf gleichgültig zu sein. Welcher Verstoß oder gar welches Verbrechen ihn wohl hierher gebracht hat?
Ich starrte ihm nach, war nicht imstande, meinen Blick von dem kindlichen Gefangenen abzuwenden. Gewiß, das sind die Schattenseiten auch in meinem Prag, aber ...
(»Warum aber?« raunte mir Kisch sogleich wieder von seinem überirdischen Stammtisch zu. »Diebe und Zuhälter, Schwindler und Betrüger, Mord und Totschlag hat esimmer gegeben, nur die Formen ändern sich mit der Zeit. Ob sie eleganter geworden sind, bezweifle ich allerdings. Damit mußt du dich abfinden, und mach kein so jämmerliches Gesicht, sonst müßte ich dir weitere Recherchen in deiner einstigen Residenz strengstens untersagen.«)
»Sind Sie müde?« fragte mich mein Begleiter vom Fernsehen, weil ich stehengeblieben war.
»Nein, nein, oder vielleicht ein bißchen«, sagte ich schnell in der Hoffnung, damit den ungewohnt erzieherischen Kisch in mir zum Schweigen zu bringen.
»Für gläubige Häftlinge haben wir eine Anstaltskapelle«, gab uns die Sprecherin bekannt. »Die befindet sich in diesem Stockwerk, wir können, wenn Sie
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