Nahe dem wilden Herzen (German Edition)
ich meine Kindheit jetzt mehr besitze als damals, als sie sich zutrug …«
Ja, es gab viele freudige Dinge vermischt mit dem Blut.
Und Joana konnte auch auf mehreren unterschiedlichen Bahnen gleichzeitig denken und fühlen. Während Otávio sprach, hatte sie zum Beispiel, obwohl sie ihm zuhörte, durchs Fenster eine kleine alte Frau in der Sonne beobachtet, schmuddelig, schwerelos und hastig – ein zitternder Zweig im Wind. Ein trockener Zweig, der so viel Weiblichkeit barg, hatte Joana gedacht, dass die Ärmste ein Kind bekommen könnte, wenn das Leben in ihrem Körper nicht schon ausgetrocknet wäre. Danach, selbst während Joana Otávio antwortete, erinnerte sie sich an die Strophe, die ihr Vater eigens für sie gedichtet hatte, damit sie an einem jener Was-kann-ich-machen-Tage etwas zum Spielen hatte:
Da war Margarida, die die Violeta kannte,
die eine war blind, die andere verrückt man nannte,
die Blinde wusste, was die Verrückte sagte,
und sah dann schließlich,
was keiner mehr zu sehen wagte …
wie ein Kreis, der sich dreht und dreht, die Luft aufwühlt und einen Windhauch erzeugt.
Es war sogar gut, zu leiden, denn während sich das niedrigste Leid ereignete, existierte man doch auch – wie ein abseits liegender Fluss.
Und man konnte auch auf den Augenblick warten, der da kam … und kam … und sich unvermittelt in die Gegenwart überstürzte und sich plötzlich auflöste …, und dann kam ein anderer … immer näher …
… DAS BAD …
Gerade als die Tante den Einkauf bezahlen ging, griff Joana nach dem Buch und steckte es vorsichtig zwischen die anderen, die sie unter dem Arm trug. Die Tante erblasste. Auf der Straße suchte sie vorsichtig nach geeigneten Worten:
»Joana … Joana … ich habe gesehen …«
Joana warf ihr einen kurzen Blick zu, schwieg aber.
»Und da sagst du gar nichts?« Die Tante konnte nicht mehr an sich halten, ihre Stimme klang weinerlich. »Mein Gott, was soll bloß aus dir werden?«
»Keine Angst, Tante.«
»Aber du bist doch noch ein Kind … Weißt du denn überhaupt, was du da getan hast?«
»Ja.«
»Weißt du, weißt du … wie man das nennt?«
»Ich habe das Buch gestohlen, das meinst du, oder?«
»Gott behüte! Was soll ich jetzt noch tun, sie gibt es auch noch zu!«
»Du hast mich gezwungen, es zuzugeben.«
»Ja, glaubst du denn, man darf … man darf stehlen?«
»Na ja … vielleicht nicht.«
»Ja, und warum hast du …?«
»Ich darf das.«
»Du?!«, schrie die Tante.
»Ja, ich habe gestohlen, weil ich wollte. Ich werde nur dann stehlen, wenn ich will. Das macht doch überhaupt nichts.«
»So wahr mir Gott helfe, wann macht es denn was, Joana?«
»Wenn man stiehlt und dabei Angst hat. Ich bin weder glücklich noch traurig.«
Die Frau blickte sie verzweifelt an:
»Mein Kind, du bist schon fast ein junges Mädchen, bald bist du erwachsen … In ein paar Tagen werden wir deinen Kleidersaum auslassen müssen … Ich flehe dich an: Versprich mir, dass du das nie mehr tust, versprich es mir, versprich mir das bei deinem Vater.«
Joana sah sie neugierig an:
»Aber wenn ich doch sage, ich darf alles, was …« Erklärungen waren sinnlos. »Ja, ich verspreche es. Bei meinem Vater.«
Später, als Joana am Zimmer der Tante vorbeiging, hörte sie ihre leise, von Keuchen unterbrochene Stimme: Joana legte das Ohr an die Tür, dorthin, wo man schon ihren Kopfabdruck sehen konnte.
»Wie ein kleiner Teufel … Und das mir in meinem Alter und mit meiner Erfahrung, wo ich eine jetzt schon verheiratete Tochter großgezogen habe, ich empfinde nichts für Joana … Ich habe nie so viel Last mit unserer Armanda gehabt, die Gott ihrem Mann so erhalten möge. Alberto, ich schwöre, ich kann mich nicht mehr um das Mädchen kümmern … Ich darf alles, hat sie mir nach dem Diebstahl gesagt … Stell dir das nur vor … Ich wurde ganz blass. Ich habe das Pater Felício erzählt, ihn um Rat gebeten … Er war genauso erschüttert wie ich … Ach, so kann es nicht weitergehen! Sogar hier zu Hause ist sie immer schweigsam, als brauchte sie niemanden … Und wenn sie einen ansieht, dann ganz direkt in die Augen, richtig kränkend, von oben herab …«
»Ja«, sagte der Onkel bedächtig, »das strenge Regiment eines Internats könnte sie zähmen. Pater Felício hat recht. Wenn mein Bruder noch lebte, würde er Joana sicher ohne zu zögern in ein Internat schicken, nachdem sie nun gestohlen hat … Und auch noch eine von diesen Sünden, die Gott am meisten beleidigt
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