Nahe dem wilden Herzen (German Edition)
mir, eine Fortsetzung meines Körpers. Beide atmeten wir erfrischt und mit klopfendem Herzen. Weiche Düsternis hatte sich über die Wiesen gelegt, die noch lau waren von der untergehenden Sonne, und eine leichte Brise wehte. Ich darf nicht vergessen, dass ich glücklich war, dass ich in diesem Moment glücklicher bin, als man sein kann. Aber ich vergaß es, immer vergaß ich.
Ich saß in der Kathedrale, in zerstreuter, unbestimmter Erwartung. Bedrückt atmete ich den purpurnen kalten Duft der Heiligenfiguren ein. Und noch bevor ich begreifen konnte, was geschah, entlud sich die unsichtbare Orgel plötzlich, wie eine Naturgewalt, in vollen, bebenden, reinen Tönen. Ohne Melodie, fast ohne Musik, fast nur ein Vibrieren. Die langen Wände und das hohe Kirchengewölbe nahmen die Noten auf und warfen sie klangvoll, nackt und eindringlich zurück. Sie durchfuhren mich, überkreuzten sich in mir, füllten meine Nerven mit Schauern und mein Gehirn mit Tönen. Ich dachte nicht Gedanken, sondern Musik. Benommen glitt ich unter der Wucht des Lobgesangs von der Bank und kniete nieder, ohne zu beten, vernichtet. Die Orgel verstummte ebenso plötzlich, wie sie erklungen war, wie eine Inspiration. Ich atmete leise weiter, mein Körper bebte noch unter den letzten Tönen, die in einem warmen, durchscheinenden Summen in der Luft schwebten. Und der Moment war so vollkommen, dass ich weder Furcht noch Dankbarkeit empfand und die Vorstellung von Gott mir nicht in den Sinn kam. Ich will jetzt sofort sterben, schrie etwas in mir, eher befreit als unter Schmerzen. Jeder Augenblick, der auf diesen folgen würde, wäre niedriger und leerer. Ich wollte aufsteigen, und nur der Tod wie ein Ende würde mir den Höhepunkt ohne Absturz gewähren. Die Menschen um mich herum erhoben sich und setzten sich in Bewegung. Ich stand auf, ging auf den Ausgang zu, zerbrechlich und blass.
DIE FRAU MIT DER STIMME UND JOANA
Joana wurde erst in dem Moment auf sie aufmerksam, als sie ihre Stimme hörte. Der leise, gebogene Ton ohne Schwingungen machte sie stutzig. Sie betrachtete die Frau neugierig. Sie musste etwas erlebt haben, was Joana bisher unbekannt war. Sie verstand diese Melodie nicht, die so weit weg war vom Leben, so weit weg von den Tagen …
Joana erinnerte sich, wie sie ihren Mann einmal, wenige Monate nach ihrer Heirat, irgendetwas gefragt hatte. Sie waren auf der Straße. Und bevor sie ihren Satz beendet hatte, hatte sie sich, zu Otávios Überraschung, unterbrochen – mit gerunzelter Stirn und amüsiertem Blick. Ah, hatte sie erkannt, sie gab also gerade eine jener Stimmen wieder, die sie als Unverheiratete so oft und immer mit leichter Verwirrung gehört hatte. Die Stimme einer jungen Frau an der Seite ihres Mannes. So wie ihre eigene jetzt Otávio gegenüber geklungen hatte: scharf, leer, in die Höhe geworfen, mit gleichförmigen, klaren Tönen. Etwas Unvollendetes, Ekstatisches, ein wenig Gesättigtes. Wie ein Versuch zu schreien … Klare, reine, trockene Tage, Stimme und Tage geschlechtslos, Chorknaben bei einer Messe im Freien. Und etwas Verlorengegangenes, auf dem Weg zu milder Verzweiflung … Dieser Klang einer Jungverheirateten besaß eine Geschichte, eine zerbrechliche Geschichte, die der Besitzerin der Stimme entging, nicht aber der Besitzerin dieser Stimme.
Von diesem Tag an fühlte Joana die Stimmen, verstand sie oder verstand sie nicht. Wahrscheinlich würde ihr am Ende ihres Lebens bei jedem Klang eine Welle von eigenen Erinnerungen ins Gedächtnis steigen, und sie würde sagen: Wie viele Stimmen ich hatte …
Sie beugte sich zu der Frau hin. Sie war zu ihr gegangen, weil sie ein neues Haus mieten wollte, und war froh, dass sie ohne ihren Mann gekommen war, denn allein war sie freier in ihren Beobachtungen. Und da war etwas, ja etwas, was sie nicht erwartet hatte, eine Pause. Aber die andere sah sie nicht einmal an. Joana versetzte sich in Otávio hinein und dachte, er würde die Frau lediglich vulgär finden, mit dieser großen, bleichen ruhigen Nase. Sie erklärte Vor- und Nachteile des Hauses und ließ gleichzeitig die Augen über den Boden, durchs Fenster und über die Landschaft wandern, ohne Ungeduld, ohne Interesse. Ein sauberer Körper, dunkle Haare. Groß, kräftig. Und die Stimme, eine erdige Stimme. Ohne irgendwo anzustoßen, weich und entlegen, als hätte sie lange Strecken unter der Erde zurückgelegt, bis sie in ihrer Kehle ankam.
»Verheiratet?«, fragte Joana, über sie gebeugt.
»Witwe, ein Kind.« Und
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