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Nahe dem wilden Herzen (German Edition)

Nahe dem wilden Herzen (German Edition)

Titel: Nahe dem wilden Herzen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clarice Lispector
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verwandeln? Oder warten, dass aus ihm selbst heraus, wie eine Konsequenz, die Lösung geboren wird? Ich weiß es nicht, noch innerhalb der Form. Alles, was ich besitze, liegt sehr tief in mir. Werde ich eines Tages, wenn ich endlich gesprochen habe, noch etwas haben, wovon ich leben kann? Oder würde alles, was ich ausspräche, diesseits und jenseits des Lebens liegen? – Alles, was eine Form des Lebens ist, versuche ich fernzuhalten. Ich versuche mich abzuschotten, um das Leben in sich selbst zu finden. Dennoch habe ich mich zu sehr auf das Spiel verlassen, das zerstreut und tröstet, und wenn ich mich davon fernhalte, bin ich jäh hilflos. In dem Moment, wo ich hinter mir die Tür schließe, entledige ich mich sofort der Dinge. Alles Gewesene rückt von mir ab und taucht stumm in meinen entlegenen Gewässern unter. Ich höre ihn, den Fall. Heiter und glatt warte ich auf mich selbst, warte, dass ich mich langsam erhebe und wahrhaftig vor meinen Augen erscheine. Statt mich zu erreichen, indem ich fliehe, sehe ich mich schutzlos, alleingelassen in eine Zelle ohne Dimensionen geworfen, wo Licht und Schatten stille Gespenster sind. In meinem Innern finde ich die gesuchte Stille. Aber darin geht mir die Erinnerung an jedwedes menschliches Wesen und an mich selbst so sehr verloren, dass ich diesen Eindruck in die Gewissheit körperlicher Einsamkeit verwandle. Wenn ich einen Schrei ausstieße – schon nicht mehr bei klarem Verstand, nehme ich an –, würde meine Stimme das gleiche ungerührte Echo von den Wänden der Erde zurückbekommen. Ohne etwas zu erleben, werde ich also das Leben nicht finden? Aber trotzdem, in der weißen, begrenzten Einsamkeit, in die ich falle, bin ich noch in geschlossenen Bergen gefangen. Gefangen, gefangen. Wo ist die Phantasie? Ich gehe auf unsichtbaren Gleisen. Gefangenschaft, Freiheit. Das sind die Wörter, die mir einfallen. Es sind jedoch nicht die wahren, einzigen, unersetzbaren, das fühle ich. Freiheit ist gering. Was ich ersehne, hat noch keinen Namen. – Also bin ich wie ein Spielzeug, das man aufzieht, und wenn die Feder abgelaufen ist, findet es kein eigenes, tieferes Leben. Versuchen, mir in aller Ruhe einz ugestehen, dass ich es vielleicht nur finde, wenn ich es in kleinen Quellen suche. Ansonsten sterbe ich vor Durst. Vielleicht bin ich nicht geschaffen für die reinen, großen Gewässer, sondern für die kleinen, leicht zugänglichen. Und vielleicht ist mein Wunsch nach einer anderen Quelle, diese Sehnsucht, die sich auf meinem Gesicht abzeichnet, wie bei jemandem, der auf der Jagd nach etwas Essbarem ist, vielleicht ist diese Sehnsucht nur eine Idee – und sonst nichts. Dennoch – die seltenen Augenblicke der Genügsamkeit, die ich manchmal erlange, eines blinden Lebens, einer so heiteren, intensiven Freude gleich dem Klang einer Orgel –, bestätigen diese Augenblicke nicht, dass ich fähig bin, meine Suche zu befriedigen, und dass dieser Durst von meinem ganzen Wesen herrührt und nicht bloß eine Idee ist? Außerdem ist die Idee die Wahrheit!, rufe ich mir zu. Diese Augenblicke sind selten. Als ich gestern, in der Schule, immer wieder gedacht habe, fast ohne dass dem etwas vorausging, fast ohne Verbindung zu den Dingen: Die Bewegung erklärt die Form. Die deutliche Ahnung des Vollkommenen, die plötzliche Freiheit, die ich empfand … An jenem Tag, auf dem Hof des Onkels, als ich in den Fluss fiel. Davor war ich verschlossen, undurchlässig. Als ich aber aufstand, war es, als sei ich aus dem Wasser geboren worden. Ich stieg nass heraus, die Kleider klebten auf meiner Haut, die aufgelösten Haare glänzten. Irgendetwas in mir bewegte sich, und es war bestimmt nur mein Körper. Aber wie durch ein sanftes Wunder war alles durchsichtig geworden, und das war bestimmt auch meine Seele. In diesem Augenblick war ich wirklich in meinem Innern, und dort war Schweigen. Nur war mein Schweigen, das begriff ich, ein Stück des Schweigens der Landschaft. Und ich fühlte mich nicht schutzlos. Das Pferd, von dem ich gefallen war, wartete am Fluss auf mich. Ich stieg wieder auf und flog die Abhänge hinunter, die der Schatten schon erreicht hatte und erfrischte. Ich zog die Zügel an und streifte mit der Hand über den klopfenden, warmen Hals des Tiers. Im langsamen Schritt ritt ich weiter, während ich dem Glücksgefühl in mir lauschte, das so hoch und rein war wie ein Sommerhimmel. Ich strich über meine Arme, von denen noch Wasser tropfte. Ich fühlte das lebendige Pferd nah bei

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