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Nahe dem wilden Herzen (German Edition)

Nahe dem wilden Herzen (German Edition)

Titel: Nahe dem wilden Herzen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clarice Lispector
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und nicht die Tatsache an sich. Und dennoch nehmen sie schließlich den ganzen geistigen und emotionalen Raum ein, weil man sie unmöglich verwirklichen kann, sie sind gegen die Natur. Sie sind tödlich, trotz allem, in dem Zustand der Promiskuität, in dem wir leben. In diesem Zustand verwandelt sich der Hass in Liebe, die in Wahrheit nichts anderes ist als die Suche nach Liebe, erlangt nur in der Theorie, wie im Christentum.«
    Oh, verschone mich, rief Otávio. Sie wollte aufhören, aber Müdigkeit und die Aufregung über die Anwesenheit des Mannes schärften ihren Verstand, und die Wörter sprudelten unaufhörlich hervor.
    »Es ist schwer, das Menschliche abzuwerten«, fuhr sie fort, »schwer, sich dieser Atmosphäre einer gescheiterten Revolution zu entziehen – die Jugend –, der Solidarität mit den Menschen, deren Anstrengungen gleichermaßen nur mit Ohnmacht belohnt wurden. Und dennoch, wie gut wäre es, etwas Reines aufzubauen, das frei wäre von falscher, verbrämter Liebe, frei von der Furcht, nicht lieben zu können … Furcht, nicht zu lieben, ist schlimmer als die Furcht, nicht geliebt zu werden …«
    Oh, verschone mich, hörte Joana aus Otávios Schweigen. Aber gleichzeitig mochte sie es, laut zu denken und ohne bestimmte Richtung einen Gedankengang zu entwickeln, der sich einfach weiterspann. Manchmal erfand sie aus reinem Vergnügen Gedanken: Wenn ein Stein fällt, dann existiert dieser Stein, dann gab es eine Kraft, die sein Fallen bewirkte, eine Stelle, von der er gefallen ist, eine Stelle, auf die er gefallen ist, einen Ort, durch den er gefallen ist – ich glaube, der Natur der Tatsache ist nichts entgangen, höchstens das Geheimnis der Tatsache selbst. Aber jetzt redete sie auch, weil sie sich nicht hingeben konnte und weil sie vor allem, ohne es zu verstehen, bloß ahnte, dass Otávio sie umarmen könnte, um ihr Frieden zu geben.
    »Eines Abends, ich hatte mich gerade hingelegt«, erzählte sie ihm, »brach ein Fuß an meinem Bett, und ich fiel auf den Boden. Erst war ich wütend, weil ich nicht einmal müde genug war, um auf Bequemlichkeit verzichten zu können, dann dachte ich plötzlich: Aus welchem Grund eigentlich ein ganzes Bett und kein kaputtes? Ich legte mich wieder hin und kurz darauf schlief ich ein.«
    Sie war nicht hübsch. Manchmal war es, als würde ihr Geist sie verlassen, und dann enthüllte sich etwas, was – nach Otávios Vorstellung – wegen übermenschlicher Wachsamkeit sonst nie entdeckt würde. Auf dem Gesicht, das dann hervorkam, besaßen die begrenzten, ärmlichen Züge keine eigene Schönheit mehr. Von dem früheren Geheimnis blieb nichts zurück als die Hautfarbe, cremefarben, düster, flüchtig. Wenn diese Augenblicke des Loslassens sich verlängerten und aufeinander folgten, dann sah er entsetzt die Hässlichkeit und mehr als die Hässlichkeit, eine Art Gemeinheit und Brutalität, etwas, was blind und unabwendbar Joanas Körper beherrschte, als wäre er im Zerfall begriffen. Ja, genau, vielleicht kam dann etwas zum Vorschein, das frei war von der Furcht, nicht zu lieben.
    »Ja, ich weiß«, fuhr Joana fort. »Die Entfernung, die die Gefühle von den Wörtern trennt. Ich habe schon daran gedacht. Und das Eigenartigste ist, dass in dem Augenblick, in dem ich es auszusprechen versuche, ich nicht nur nicht ausdrücke, was ich empfinde, sondern, was ich empfinde, langsam zu dem wird, was ich sage. Oder wenigstens ist das, was mich zum Handeln treibt, sicherlich nicht das, was ich empfinde, sondern das, was ich sage.«
    Kaum hatte er sie kennengelernt, hatte sie von dem Alten gesprochen, von der Schwangerschaft der Hündin, und voller Entsetzen hatte er sich plötzlich wie nach einem Geständnis gefühlt, als hätte er jener Fremden sein ganzes Leben erzählt. Welches Leben? Das, was in ihm kämpfte und nichts war, wiederholte er sich aus Angst, vor sich selbst als großartig und verantwortungsvoll dazustehen. – Er war nichts, nichts und brauchte also auch nichts zu unternehmen, wiederholte er sich, in Gedanken die Augen geschlossen. – Als hätte er Joana erzählt, was er nur im Dunkeln fühlte. Und das Überraschendste an allem war: als hätte sie zugehört und danach verzeihend gelacht – nicht wie Gott, sondern wie der Teufel – und ihm weit die Tore geöffnet, durch die er gehen konnte.
    Vor allem in dem Moment, als er sie berührte, hatte er verstanden: Was immer nun zwischen ihnen sein würde, wäre unwiderruflich. Denn als er sie umarmte, hatte er

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