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Nahe dem wilden Herzen (German Edition)

Nahe dem wilden Herzen (German Edition)

Titel: Nahe dem wilden Herzen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clarice Lispector
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scheinbar gleichgültig, aber ihr Herz klopfte aufgeschreckt. Guck zur Seite. Sie ahnte, dass sie schließlich doch hinsehen würde, sie wusste vage, was neben ihr war, aber sie tat so, als ob sie nicht vorhatte hinzusehen, als würde sie den Rest des Bettes nicht beachten. Guck zur Seite. Dann gab sie sich geschlagen, und vor der Menge von Gesichtern, die von der Bühne aus der Szene zusahen, wandte sie langsam den Kopf auf dem Kissen zur Seite und guckte. Da lag ein Mann. Sie begriff, dass sie genau das erwartet hatte.
    Seine Brust war nackt, die Arme offen, gekreuzigt. Sie drehte ihren Kopf wieder in die alte Lage. Gut, ich habe also geguckt. Aber gleich darauf erhob sie sich, und gestützt auf ihren Ellenbogen, sah sie ihn an, vielleicht ohne Neugier, jedoch fordernd, in Erwartung einer Antwort. Oder glaubte sie, dass die unbewegten Gesichter diese Geste erwarteten? Da lag ein Mann. Wer war das? Die Frage huschte vorbei, schon verloren, wurde wie ein armseliges Blatt von dunklen Wellen hinweggetragen. Aber bevor Joana sie völlig vergessen konnte, sah sie, wie sie an Wichtigkeit zunahm, sich neu und eindringlich stellte, die Stimme beugte sich über sie: Wer war das?
    Sie wurde ungeduldig und müde angesichts des Drängens der zahllosen Gesichter, die, statt spielerisch zu befehlen, nun forderten und forderten. Wer war das? Ein Mensch, männlich, antwortete sie. Aber doch ihr Mann, jener Fremde. Sie sah ihm ins Gesicht, es war das müde Gesicht eines schlafenden Kindes. Die Lippen waren leicht geöffnet. Die Pupillen unter den dicken, geschlossenen Lidern waren nach innen gekehrt, tot. Sie tippte ihm auf die Schulter, und bevor noch irgendein Eindruck bei ihr ankam, zog sie sich schon rasch und erschrocken zurück. Sie hielt ein wenig inne, fühlte das eigene Herz heftig in der Brust schlagen. Sie zog ihr Nachthemd zurecht und gab sich so Zeit zurückzuweichen, wenn sie noch wollte. Aber sie drang weiter vor. Sie näherte ihren hellen Arm dem nackten Arm jenes Geschöpfes, und obwohl sie schon den nächsten Gedanken voraussah, erzitterte sie, aufgewühlt durch den gewaltigen Unterschied in der Farbe, der so fest und kühn war wie ein Schrei. Es gab zwei begrenzte Körper auf dem Bett. Und diesmal konnte sie nicht darüber klagen, dass sie in vollem Bewusstsein auf die Tragödie zugesteuert war: Der Gedanke hatte sich ihr aufgedrängt, ohne dass sie ihn ausgewählt hatte. Und wenn er aufwachte und sie so über ihn gebeugt vorfand? Wenn er plötzlich die Augen öffnete, würden sie genau in ihre Augen blicken, die beiden Lichter würden sich kreuzen mit den beiden anderen Lichtern … Sie zog sich hastig zurück, verkroch sich in sich selbst, voller Angst, dieser uneingestandenen Angst früherer Nächte ohne Regen, in der Dunkelheit ohne Schlaf. Wie oft muss ich noch dasselbe in verschiedenen Situationen erleben? Sie stellte sich jene Augen wie zwei ausdruckslos glänzende Kupferplatten vor. Was für eine Stimme würde aus jener schlafenden Kehle aufsteigen? Töne wie dicke Pfeile, die sich in die Möbel, die Wände, in sie selbst sanft einbohren würden. Und alle auch mit verschränkten Armen, mit in die Ferne schweifendem Blick. Unerbittlich. Die Schläge einer Uhr hören nur auf, wenn sie aufhören, da ist nichts zu machen. Man kann höchstens einen Stein dagegen werfen, und nach dem Lärm von zersplitterndem Glas und brechenden Federn die Stille, die sich ausbreitet wie Blut. Warum nicht den Mann töten? Unsinn, dieser Gedanke war völlig aus der Luft gegriffen. Sie sah ihn an. Angst davor, dass »es« alles wie auf Knopfdruck – eine Berührung würde ausreichen – unter Getöse automatisch anlaufen, das Zimmer mit Bewegungen und Tönen füllen würde, lebendig. Sie hatte Angst vor der eigenen Angst, die sie isolierte. Sie sah von weit oben, von der ausgeschalteten Lampe, auf sich selbst hinab, verloren und winzig, von Monden bedeckt, neben dem Mann, der jederzeit zum Leben erwachen konnte.
    Und plötzlich, hinterlistig, überkam sie wirkliche Angst, so lebendig wie alles Lebende. Das Unbekannte in diesem Tier, das ihr gehörte, in diesem Mann, den sie nur hatte lieben können! Angst im Körper, Angst im Blut! Vielleicht würde er sie erwürgen, ermorden … Warum nicht?, erschrak sie – die Kühnheit, mit der ihre eigenen Gedanken fortschritten, sie wie ein bewegliches, zitterndes Lichtlein durch das Dunkel führten. Wohin ging es? Aber warum sollte Otávio sie nicht erwürgen? Waren sie denn nicht allein?

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