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Nahe dem wilden Herzen (German Edition)

Nahe dem wilden Herzen (German Edition)

Titel: Nahe dem wilden Herzen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clarice Lispector
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einmal haben, auf verschiedene Weisen fühlen, das Leben in unterschiedlichen Quellen begreifen … Wer konnte jemand anderem verbieten, ausgiebig zu leben?
    Später verfiel sie in einen Zustand eigentümlicher, flatteriger Aufregung. Sie glitt ziellos durchs Haus, weinte sogar etwas, ohne großen Schmerz, nur um zu weinen – sagte sie sich überzeugt –, einfach wie jemand, der mit der Hand winkt, wie jemand, der vor sich hin schaut. Schmerzt es mich?, fragte sie sich ab und zu, und was in ihr dachte, füllte sie von neuem ganz mit Überraschung, Neugier und Stolz, und es war kein Platz mehr für jemanden, der litt. Aber ihre feine Erregung gestattete ihr nicht, längere Zeit auf derselben Stufe zu verweilen. Sie ging also über zu einer anderen Tonart, spielte ein wenig Klavier und vergaß Lídias Brief. Als sie sich kurz daran erinnerte, ein Vogel, der hin und her fliegt, konnte sie sich nicht entscheiden, ob sie traurig oder froh sein sollte, ruhig oder aufgeregt. Sie dachte die ganze Zeit an die letzte Nacht, die hoch aufragende Fensterscheibe glänzte ruhig im Mondschein, an Otávios entblößte Brust, an die Joana, die tief eingeschlafen war, fast zum ersten Mal in ihrem Leben, während sie sich einem Mann anvertraut hatte, der an ihrer Seite schlief. In Wirklichkeit hatte sie sich von der mit Zärtlichkeit erfüllten Joana vom Vorabend noch nicht getrennt. Beschämt, demütig, abgewiesen war die andere ziellos umhergelaufen, bis sie zurückkehrte und Joana sich immer mehr verhärtete, sich stärker konzentrierte und sich immer näherkam – glaubte sie. Es war sogar besser so. Nur dass der kalte Stahl immer wiederkam, nie erwärmte er sich. Vor allem schwebte hinter jedem Gedanken ein anderer verwirrt, fast verzaubert, wie am Tag, als ihr Vater starb: Dinge geschahen, ohne dass sie sie erfinden musste …
    Am Nachmittag konnte sie endlich Lídia beobachten und stellte fest, dass sie so weit von ihr entfernt war wie von der Frau mit der Stimme. Sie blickten sich an und konnten sich nicht hassen oder gar voneinander abgestoßen fühlen. Lídia hatte, blass und zurückhaltend, über Verschiedenes gesprochen, das für keine von beiden von Interesse war. Ihre beginnende Schwangerschaft trieb durch das ganze Wohnzimmer, füllte es und drang in Joana ein. Sogar die stumpfen Möbel mit den Spitzendeckchen schienen in demselben fast enthüllten Geheimnis, in derselben Erwartung des Kindes aufgehoben zu sein. Lídias offene Augen waren ohne Schatten. Was für eine schöne Frau. Die vollen, aber friedlichen Lippen zitterten nicht, wie bei jemandem, der sich nicht vor der Lust fürchtet und sie ohne Reue genießt. Auf welchem Gedicht gründete wohl ihr Leben? Was sagte wohl dieses Murmeln, das sie im Inneren Lídias erahnte? Die Frau mit der Stimme vervielfältigte sich in unzählige Frauen … Aber wo war letztendlich ihre Göttlichkeit? Sogar auf den Schwächsten lag ein Schatten jener Erkenntnis, die man nicht durch Intelligenz erwerben kann. Intelligenz blinder Dinge. Macht des Steins, der im Fall einen anderen anstößt, der ins Meer fällt und einen Fisch töten wird. Manchmal fand sich die gleiche Macht bei Frauen, die nur ein wenig Mütter und Ehefrauen waren, schüchterne Weibchen des Mannes wie die Tante, wie Armanda. Und dennoch, diese Kraft, die Einheit in der Schwäche … Nun, vielleicht übertrieb sie auch, vielleicht war die Göttlichkeit der Frauen nichts Besonderes, sondern bestand nur in der Tatsache, dass sie existierten. Ja, genau, da lag die Wahrheit: Sie existierten mehr als andere, sie waren das Symbol einer Sache in der Sache selbst. Und die Frau war das Geheimnis im Geheimnis selbst, wie ihr jetzt klar wurde. In ihnen allen steckte so etwas wie Rohstoff, etwas, das sich eines Tages genauer abzeichnen könnte, sich aber nie verwirklichte, weil es sein ureigenes Wesen war, immer »zu werden«. Verband sich dadurch nicht die Vergangenheit mit der Zukunft und mit allen Zeiten?
    Lídia und Joana schwiegen lange. Sie fühlten sich einander nicht gerade nahe, brauchten aber auch keine Worte, als hätten sie sich in Wirklichkeit nur getroffen, um sich anzusehen und dann auseinanderzugehen. Das Merkwürdige an der Situation wurde deutlicher, als die beiden Frauen fühlten, dass sie nicht miteinander im Kampf lagen. In beiden regte sich etwas ungeduldig, noch galt es, eine Pflicht zu erfüllen. Joana schob sie, plötzlich befriedigt, von sich:
    »Nun« – der Ton ihrer eigenen Stimme weckte sie

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