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Nahe Null: [gangsta Fiction]

Nahe Null: [gangsta Fiction]

Titel: Nahe Null: [gangsta Fiction] Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nathan Dubowitzki
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gebildeten und höflichen Mannes. Dieser zerriss seinerseits noch eine halbe Stunde lang die so glücklich wiederhergestellte Stille mit über den ganzen Hof schallenden Entschuldigungen für die erduldeten Unannehmlichkeiten. Das Mädchen erging sich also in sadistischem Fortissimo, verströmte kochend heiße Tränen und beobachtete den Vater wie ein Biologe eine Maus, der er soeben eine Elefantendosis einer noch nicht getesteten Mixtur verabreicht hat.
    »Schon gut, Nastja, schon gut, iss weiter. Iss, bitte«, kapitulierte der nassgespritzte Vater.
    Das Geheul brach jäh ab.
    »Erzähl mir ein Märchen«, verlangte Nastja.
    »Sag du mir erst ein Gedicht auf. Ihr lernt doch in der Schule Gedichte«, stellte Jegor in pädagogischem Ton eine Gegenforderung.
     
    »>Diese Flüsse, sie fließen in Seen,
    aus denen sie munter entspringen.
    Das ist klar, doch was für ein Rätsel:
    Wo befinden sich denn jene Seen, aus denen die Flüsse sich nähren?
    Diese Seen, die gibt's nicht, und Schluss.
    Das ist alles. Das Rätsel ist Stuss!
    Ich versteh 's nicht, gestehe ich dir;
    aber gut, vielleicht ist das ja klar.
    Das ist klar, doch was ich nicht versteh:
    Warum fließen die Flüsse im Kreis ?
    Du erregst dich, mein Freund, ganz umsonst.
    Auch die Flüsse, die gibt's nicht, und Schluss.
    Das ist alles. Das Rätsel ist Stuss!<«,
     
    ratterte die Tochter unerwartet.
    »Nicht übel. Von wem ist das?« Jegor gefiel das Gedicht.
    »Weiß nicht. Erzähl mir ein Märchen. Du hast es versprochen.«
    »Vom buntgescheckten Hühnchen? Vom Wolf und den Geißlein? Oder vielleicht von Micky Maus?«, fragte der Vater hastig und fügte hinzu: »Oder das Märchen vom Bauern, der den Bären lehrte, eine Stute aufzuschlitzen. Nein, das lieber, wenn du groß bist... Oder wie ein Mädchen aus dem Stamm Agata aus dem Dorf Kussumi im Kreis Katakata des Landes Mino zur Herrschaftszeit von Kammu im Sommer des ersten Jahres des Ewigen Wohls zwei Steine gebar, und dann kam aus dem Kreis Azumi der Gott Inaba und sprach: >Diese beiden Steine sind meine Kinder ...<«
    »Das sind alte Märchen. Erzähl mir ein neues. Von Wall-E zum Beispiel oder von Bolt.«
    »Wer ist das?«, fragte Jegor verwirrt.
    »Na, erzähl mir halt irgendwas Neues.«
     

22
    Jegor überlegte und überlegte, sah, dass Nastja die Geduld verlor und nur noch wenige Sekunden bis zum erneuten Einschalten der Hyundai-Sirene blieben, und deklamierte aus purer Verzweiflung eine seiner eigenen alten Erzählungen:
    »Die Stadt ist so groß wie die Welt, die so groß ist wie die Stadt - dieses endlose geschlossene Bild beschreibt in der Tat ganz gut jenes vorkopernikanische Weltbild, dem ich anhänge, ebenso wie jeder Städter, und das nicht Gott zum Mittelpunkt des Universums erklärt, nicht die Sonne, nicht einmal den Menschen, sondern den erstbesten Stadtklatsch.
    Übrigens haben unsere Vorfahren, ein stolzes Volk von Pfandleihern und Feldherren, die Stadt zur Hauptstadt eines so unermesslich großen Imperiums gemacht, diese Hauptstadt mit einer solchen Unzahl von Bürgern besiedelt und ihre Straßen mit solch unschätzbarem Luxus geschmückt, dass eine derartige Enge meiner Metaphysik durchaus verzeihlich ist.
    Beschreiben werde ich die Stadt nicht, denn die wenigen, die außerhalb ihrer Grenzen leben, sind wenigstens einmal, zumindest auf der Durchreise, hier gewesen.
    Zu Beginn meines Berichts erinnere ich nur daran, dass jede Fortbewegung innerhalb der Stadt äußerst schwierig ist. Menschen und Autos fallen Tag und Nacht in unablässigem Strom übereinander her.
    Die sogenannten Staus auf den Straßen waren einst eine städtische Katastrophe, sind aber nun, wie jede Katastrophe, gegen die man nichts tun kann, zu einer Lebensweise geworden. In den Staus wird geboren und gestorben, wird Karten gespielt, an Wahlen teilgenommen, werden Lieder gedichtet und gesungen. In den Staus stecken auch manche Geschäfte, Banken und Gewerkschaften, irgendwo arbeitet notgedrungen sogar ein Ministerium. Man kann sich auf den Bürgersteigen fortbewegen, doch der Fußgänger weiß nie, wohin die Menge ihn mitreißen wird. Auch die Untergrundbahn hat die in sie gesetzten Hoffnungen nicht erfüllt - Unfälle, Streiks und Rowdys haben dieses Verkehrsmittel zu einem Tummelplatz für Abenteurer gemacht.
    Darum entfernen sich die Städter selten weit von ihrem Haus, und wenn sie es doch tun, glaubt kaum jemand an ihre Rückkehr.
    Ich zum Beispiel war noch nie im Stadtzentrum (es ist wunderschön), und nichts

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