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Nahe Null: [gangsta Fiction]

Nahe Null: [gangsta Fiction]

Titel: Nahe Null: [gangsta Fiction] Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nathan Dubowitzki
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wir den Mann, der Wand an Wand mit uns lebte und mit uns Küche und Bad teilte, noch nicht einmal kennengelernt hatten. Meine Frau bemerkte solche Ungereimtheiten nicht, wie sie auch beim täglichen Eintauchen in die botanische Hölle keine Müdigkeit verspürte. Sie war ganz erfüllt von der Freude, einem genialen Komponisten zu dienen, und ich bemühte mich, sie nicht zu enttäuschen - ich hatte vor kurzem ein Solfege-Lehrbuch gekauft, um, wenn nötig, bei einem Gespräch über Musik mithalten zu können.
    Eines Abends, ich war sicher, der Nachbar müsse zu Hause sein, klopfte ich an seine Tür, in der Absicht, mich vorzustellen und - ich gebe es zu - anzudeuten, dass eine angemessene Beteiligung seinerseits an der Pflege der kräftezehrenden Flora vonnöten sei. Auf mein Klopfen erfolgte keine Reaktion, und ich warf einen diskreten Blick ins Zimmer. Der Nachbar war tatsächlich zu Hause, er schlief, zusammengerollt, mit dem Gesicht zur Wand, angezogen - die zerknitterte Hose, das karierte Hemd, das zerzauste rote Haar, die halbmorschen Schuhe fügten sich zu der dumpfen Ahnung eines durch tiefes Vergessen unterbrochenen Suffs. Allerdings fehlten die zur Vervollständigung des Bildes zwingend notwendigen Speise- und Alkoholreste, auch war die Luft im Zimmer frisch wie nach einem Gewitter. Überhaupt war es erschreckend sauber und erschreckend leer - nichts und niemand, außer dem Bett und dem Nachbarn.
    Um ihn nicht zu wecken, waren meine Frau und ich den ganzen Abend bemüht, keinen Lärm zu machen.
    Noch mehrfach versuchte ich, mit ihm zu sprechen. Er war immer zu Hause, aber immer schlief er - in derselben Haltung, in derselben Kleidung. Seine doch etwas maßlose Schläfrigkeit ärgerte mich allmählich, da wir die ganze Zeit wie auf Zehenspitzen leben mussten.
    Anfangs glaubte ich, er sei immer dann wach - so musste es wohl sein -, wenn ich nicht zu Hause war, doch dann nahm ich eine Woche Urlaub wegen der Krankheit meiner Frau - im Frühjahr wird ihre Störung stets schlimmer, sie sucht beharrlich den Chopin in mir, und ich muss bei ihr sein, um sie nicht zu verlieren. An solchen Tagen mime ich schöpferische Qualen, bedecke Notenblätter mit verrückten geschwänzten Punkten, und sie bewundert verzückt Chopin in Aktion. Das tröstet sie und löscht sanft die aufgeflammte Malaise.
    Eine Woche lang verließ ich also die Wohnung nicht und überzeugte mich natürlich davon, dass der Mucksmäuschenstille ständig schlief, ja noch nicht einmal aus biologischen oder hygienischen Gründen erwachte. Diese Entdeckung mehrte meine Trauer und füllte mein Herz mit allerhand Ängsten und Verzweiflung.
    Die erste Erklärung, die mein Verstand in diesem dunklen Wunder ertastete, war banal. Ich entschied, dass der Nachbar an Katalepsie leiden musste. Der zur Konsultation herbeigerufene Arzt meiner Frau hörte mich ein wenig geduldiger an als einen Bekannten, den man nicht für einen Patienten hält. Nicht allzu gern beugte er sich über den Schlafenden und verneinte eine mögliche Katalepsie entschieden - die Atmung war nach seinen Worten tief und gleichmäßig, so atme ein Gesunder nach befriedigender körperlicher Arbeit im Schlaf. Ich schlug vor, den glücklichen Arbeiter zu wecken. Der Arzt schlurfte nachdenklich in die Küche. Dort erklärte er beim Tee, der Schlafende solle besser nicht geweckt werden. >Wenn wir ihn wecken, wen wecken wir damit ?<, fragte er, in den Tee blickend. >Er könnte sich als Verbrecher entpuppen, als Psychopath mit einer Rasierklinge in der Tasche oder als falscher Prophet, dessen Lehre ganze Menschheiten in Aufruhr stürzt.< Ich habe Ärzten immer vertraut und akzeptierte auch diese Verordnung dankbar. Der Schläfer schnarchte nicht, redete nicht im Schlaf, wälzte sich nicht von einer Seite auf die andere. Er störte niemanden. Einmal geweckt, würde er womöglich augenblicklich Unannehmlichkeiten bereiten, wenn nicht >ganzen Menschheiten<, so gewiss meiner Frau und mir.
    Als der Arzt gegangen war, fühlte ich mich fast geheilt. Doch mit der Zeit ärgerte mich der Schlafende erneut. Das Wort der Medizin verlor an Überzeugungskraft, die Unsicherheit kehrte zurück. Den Nachbarn zu wecken, wagte ich nicht, doch auch ihn nicht zu wecken war leichtsinnig. Ich brauchte eine Erklärung, um nicht meiner Frau ins Dickicht des Irrsinns zu folgen.
    Nach Sichtung meines gesamten intellektuellen Instrumentariums, das sich, wie ich bekenne, als weniger scharf und vielfältig erwies, als ich geglaubt

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