Nahe Null: [gangsta Fiction]
drauf und dran, ihren Tod zu spielen, doch da ließ der Mann sie los. Sie sucht nach Erklärungen, versteht nicht, was vor sich geht, kann das soeben Geschehene nicht recht fassen.
Eine pantomimische Szene, die Worte werden übertönt von verblödendem Obladi-Oblada. Er beruhigt sie, redet auf sie ein - versichert ihr, es sei ein Scherz gewesen, oder was? Er deckt sie zu, wiegt sie sogar. Und plötzlich würgt er sie erneut und lässt sie kurz vor dem letalen Ausgang wieder los. Nun versucht sie zu fliehen. Er fängt sie ein, würgt sie, würgt sie halbtot, lässt von ihr ab. Und das Ganze siebenmal. Beim siebten Mal bringt er die Sache barmherzig zu Ende. Sie stirbt. Das nervtötende Obladi-Oblada versackt in einer Pause. Prasselnde Flammen. »Zehn Jahre später.« Der Mann im selben Zimmer. Er erwacht allein mitten im Feuer. Er verbrennt bei lebendigem Leib; Großaufnahme; ungeheuerliche Details; lautes Gebrüll; Obladi-Oblada von fern und leise. »In den Rollen.« Der Mann und ein Nachtschrank im nur noch müde flackernden Feuer. »Ein Song der Beatles.« Die Leinwand angekokelt, dann schwarz. »Ende.«
Jegor, der in seinem Leben schon so einiges und so manchen Körper auf unterschiedlichste Weise erledigt hatte, fror von dem Gesehenen und Gehörten bis ins Mark, wogegen den verweichlichten Wir, wenngleich sie selbst schmutzige Arbeit mieden und dafür schnell schießende Jegors engagierten, der Film keineswegs im Hals stecken blieb. Im Gegenteil, sie priesen ihn mit lauten Ausrufen: »krass!« oder »krass, Leute, krass!« und fielen in der samtenen Bar sogleich mit animalischem Appetit über Krabbenspieße, Beluga-Eier und langstielige Champagnergläser her.
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Jegor drängte sich durch ihre entspannten Reihen zum Ausgang, wobei er aus den Augenwinkeln Sarah entdeckte oder eine Frau, die ihr von hinten ähnlich sah, unterließ es aber, ihr nachzulaufen, nach ihr zu rufen, um zu überprüfen, ob es Sarah war oder nicht. Er lief nach Hause, wo er sich drei Tage lang die Hände wusch, nichts aß, nicht schlief, in der Wanne lag, sich wünschte, die Vorführung vergessen zu können, und das Internet auf der Suche nach Plaksa durchforstete. Er fand etwas, aber fast nichts. Zu Trügerische Dinge gab es einiges, aber nicht das, was er suchte; Mamajew war vor vier Jahren von mehreren unbedeutenden Bloggern auf Albanisch veralbert worden, und ein virtueller Protodiakon hatte letzten Februar einen Bannfluch über ihn verhängt, wonach der Regisseur spurlos aus dem Netz verschwand. Über
Unter uns
gab es keinerlei Informationen. Und auch zu Plaksa - nichts. Vergeblich erschien Jegor zur verabredeten Zeit am verabredeten Ort des versprochenen Online-Rendezvous. Auch erschien er dort mehrfach danach vergeblich, er suchte mit dem Cursor herum, trat auf der Stelle, wartete sehnsüchtig - sie war nicht da. Er machte sich auf die Suche, erst auf respektablen, üppig ausgestatteten Webseiten von Filmfirmen und Freizeitmagazinen; dann im Boulevard - im Netz der Gerüchte und unzensierten Kritik; dann in Piratengebieten, wo mit gestohlenen Videos gehandelt wurde; und schließlich landete er in finsteren, selten besuchten Gebieten, wo sich passwortgesicherte Banden von Pädophilen, Nazis, Auftragskillern, sich prostituierenden Behinderten, lüsternen Krüppeln, Drogenhändlern, perversen Irren und ähnliches Publikum rumtrieb, doch auch hier hatte niemand etwas von ihr gehört. Er verließ die Grenzen des www und begab sich in den offenen, spam- und sperrfreien Kosmos - dort herrschte undurchdringliche Schwärze, wie nach dem »Ende« des Films; Plaksa war nicht da.
Jegor peinigte nicht so sehr die Übelkeit, die das Movie ausgelöst hatte, obwohl ihm natürlich übel war, furchtbar übel, sondern vor allem das, was er zunächst für einen widerlichen, von Mamajews Marter erzeugten Nachgeschmack in seiner Seele gehalten hatte, was in seinem Kopf aber allmählich, von stechendem Schmerz begleitet, zu einer üblen Ahnung anschwoll.
Jegor war recht erfahren, er hatte seine Arbeit viele Jahre geliebt und mochte sie erst seit einigen Tagen nicht mehr. Beruflich hatte er oft gesehen, wie harte Kommandeure kommerzieller Kriege, ihre Frauen und Kinder, ihre Gorillas und ihr Fußvolk ins Jenseits abtraten und auch unglücklich ins Visier und unter die Räder von Bandenkämpfen geratene, außerplanmäßige Opfer, unschuldige Trottel. Er wusste, wie sie fühlten und wie sie aussahen, solange sie noch lebten, und hinterher - wenn sie
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