Nahe Null: [gangsta Fiction]
Eiffeltürme, Kremls, Tadsch Mahals und lustige Big Bens, wieder aus Platin, Gold, antikem Silber, Kristall, Marmor und Malachit... Igor Fjodorowitsch war nicht gealtert, im Gegenteil. Er hatte sich unmögliche neue Haare für fünftausend Dollar das Stück in die Glatze pflanzen und es sich auch nicht nehmen lassen, mit Hauern zum gleichen Preis zu glänzen, am selben Ort erworben wie die Haare, in einer Klinik irgendwo in der Nähe von Hollywood, wo sich die Cloonys und Demi Moores verjüngten. Er war familiär in einen mit Petrus befleckten Samtprada und mit tadshikischem Putz bekleckerte Chinchilla-Pantoffeln gehüllt. Bei alldem war er traurig, hielt eine Hamlet- Ausgabe in der Hand, und als er den zerknittert gekleideten und mutlosen Jegor erblickte, las er ihm sogleich daraus vor:
»>... mit ganz aufgerissnem Wams, kein Hut auf seinem Kopf, die Strümpfe schmutzig und losgebunden auf den Knöcheln hängend; bleich wie sein Hemd und schlotternd mit den Knien; mit einem Blick, von Jammer so erfüllt, als war er aus der Hölle losgelassen, um Gräuel kundzutun - so tritt er vor mich.<«
»Hallo. Aus der Hölle, Gräuel kundzutun. Genau«, antwortete Jegor. »Aber wieso plötzlich Hamlet?«
»Erzähl ich dir gleich, Bruder, ich erzähle dir, warum. Leg dich hin!« Chief zeigte auf eine Couch, ließ sich selbst auf die andere fallen, zündete sich eine Zigarre an, tunkte sie des Geschmacks wegen in Scotch und kündigte so seinem Gast, der mechanisch und nervös mit einem Nephrit-Papiermesser Foie gras zu löffeln begann, eine ausführliche Antwort an.
»Aber leg dich doch hin, leg dich hin, fühl dich wie zu Hause. Hör zu. Erinnerst du dich an Fjodor Iwanowitsch? Meinen Stiefvater? Du musst dich an ihn erinnern. Also. Als ich etwa sechs war, bekam der Nachbarsjunge von einem Verwandten, der auf einer Dienstreise jenseits des Eisernen Vorhangs gewesen war, ein todschickes aufblasbares oranges Gummikrokodil geschenkt, so eines, wie Mimino es für seinen Neffen mitgebracht hat. Der Nachbarsjunge gab natürlich furchtbar damit an und ließ mich das Krokodil nicht einmal anfassen. Ich wünschte mir sehnsüchtig genau so eines, so sehnsüchtig, wie ich mir nie wieder im Leben etwas wünschte. Ich lag meinem Stiefvater in den Ohren: Kauf mir eins, kauf mir eins, kauf mir eins! Und mein Stiefvater versprach dummerweise, obwohl er nie ins Ausland fuhr, aus Mitleid oder einfach so, ganz unbedacht, mir zum neuen Jahr genau so ein oranges Krokodil zu beschaffen. Schön, beschaffen, leicht gesagt, aber wo? Meine Mutter, die seine Ratlosigkeit sah, wollte mich auf ein Minsker Fahrrad umlenken oder auf eine Spielzeug-Raketenabschussrampe. Aber ich beharrte auf meinem Willen - ein ausländisches Krokodil, her damit, du hast es versprochen. Mein Stiefvater litt, schwieg und seufzte.
Neujahr kam heran. Ich sehe - mein Stiefvater schlägt die Augen nieder, rollt ein Fahrrad herein, Mama schiebt mir die Abschussrampe hin und schießt Raketen unterm Tannenbaum ab - aber von einem Krokodil keine Spur. Ich weinte die ganze Silvesternacht durch. Und dann noch einen Tag und noch eine Nacht, ich hatte schon keine Kraft mehr, aber ich weinte immer weiter. Mein Stiefvater bat mich um Verzeihung, aber ich verzieh ihm nicht, ich blieb ganz unkindlich kompromisslos. Ich redete nicht mehr mit Fjodor Iwanowitsch und war sauer auf meine Mutter, weil sie auf seiner Seite war.
Aber man kann ja nicht ewig trauern, ich vergaß das Krokodil allmählich und träumte von einem echten Fußball und einem Fußballdress, besonders von Toppen und Stulpen. Und eines Abends Ende Januar, ich erinnere mich genau, klingelt es an der Tür, Mutter geht öffnen, ich folge ihr in den Flur, die Tür geht auf. Davor steht mein Stiefvater, eben von draußen, aus der Kälte, Schneeflocken auf Mütze und Mantel, auf den Schultern ganz dicht, darunter dünner auf dem Mantel verteilt, aber dafür leuchtend und glitzernd wie Sterne am heimeligen Weihnachtshimmel; im Arm hält er das ersehnte, ebenfalls mit Schneeflocken übersäte orange Krokodil, nicht schlechter als das des Nachbarn, nein, besser sogar, mein eigenes, heute und für alle Zeiten. Ich stürzte zum Stiefvater und umarmte zuerst ihn vor überschäumender Freude, Dankbarkeit und Zärtlichkeit; schmiegte mich an seinen schneebedeckten Mantel, der Januarfrische, gesunde Kälte und klare Luft ausströmte, und die Schneeflocken ertranken in meinen Tränen. Mama sagte: >Lass ihn sich doch erst einmal ausziehen,
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