Naked - Hemmungslose Spiele (German Edition)
Essen, denn Chaims Bauch hatte sich seit unserer letzten Begegnung zwar glatt verdoppelt, aber meine Mutter war immer noch zart wie ein Vögelchen.
„Wir sind nur zufällig vorbeigekommen …“
„Unsinn“, mischte Chaim sich ein. Seine Stimme war laut und dröhnend. „Ihr bleibt und esst mit uns. Erzählt uns alles, was ihr in letzter Zeit so getrieben habt.“
Gut, vielleicht wollte er mir kein schlechtes Gewissen machen, weil ich nicht so oft anrief, wie ich eigentlich sollte. Vielleicht klang er einfach nur so. Aber im Grunde bin ich mir ziemlich sicher, dass er es genau so meinte. Wenn es nach ihm ging, dann war ich allein schuld an dem, was zwischen meiner Mutter und mir vorgefallen war. Du sollst Vater und Mutter ehren undder ganze Kram. Dass er gar nicht mein Vater war, spielte für ihn offenbar keine Rolle.
„Ich könnte was vertragen.“ Alex schnupperte. „Das riecht lecker, Mrs …“
Er warf mir einen Blick zu, und ich fügte hinzu: „Kaplan.“
Meine Mutter strahlte und huschte durch das Wohnzimmer zurück in die Küche. Sie bedeutete uns, ihr zu folgen. „Kommt, kommt!“
Sie hatten Besuch. Eine Familie, die ich nicht kannte. Ein junges Paar. Die Frau hatte ihre Haare mit einem gestrickten Kapuzenschal bedeckt und trug Kleider, die nicht einen Zentimeter zu viel Haut zeigten. Der Mann trug wie Chaim ein weißes Hemd und eine schwarze Hose. Sein Bart war lang und voll, die Schläfenlocken wippten. Ein Baby schlief in einem Kinderwagen, und ein Kleinkind, dessen Alter ich nicht schätzen konnte, spielte mit Bauklötzen auf dem Fußboden.
„Tovi, Reuben – das ist meine Tochter Olivia. Und ihr Freund Alex.“
Reuben riss die Augen auf. Waren es meine Klamotten? Das enge schwarze T-Shirt, das mit einem weißen Totenkopf bedruckt war, dessen herzförmige Augen mit Strasssteinen besetzt waren? Oder war es meine Hautfarbe, waren es meine Rastalocken? Oder war er einfach schockiert, weil Alex seine eheringlose Hand in meine ebenso unberingte schob?
„Freut mich, euch kennenzulernen“, sagte Tovi deutlich, was ihren Mann dazu brachte, sich wenigstens ein Nicken abzuringen.
„Setzt euch doch.“ Meine Mutter eilte um den Tisch, stellte Teller hin und brachte Besteck.
Wir konnten nicht in Ruhe essen. Ich kannte die Leute zwar nicht, über die sie redeten, aber meine Mutter schaffte es immer wieder, mich ins Gespräch einzubinden. Bei Alex gelang ihr das auch. Es war spannend, zu beobachten, wie er sich benahm. Er flirtete nicht, sondern sprach gesittet und respektvoll.
Er machte das für mich, und bei diesem Gedanke wurde mir ganz warm ums Herz. Außerdem fiel es mir dadurch leichter, mich selbst zu benehmen, schon um ihn nicht der Peinlichkeit eines Familiendramas auszusetzen. Und außerdem war ich wirklich froh, dass ich mal wieder eine Mahlzeit mit meiner Mutter einnehmen konnte, die nicht mit eisigem Schweigen oder wüsten Beschimpfungen endete. Es war schön, sich einfach wieder als Teil der Familie zu fühlen.
„Erzähl mir von diesem Mann“, bat meine Mutter, als ich ihr half, den Tisch abzuräumen. Die Gäste hatten sich verabschiedet, und Alex hatte sich kurz entschuldigt, er müsse ins Bad. Chaim hockte sich vor den kleinen Fernseher im Wohnzimmer und schnappte sich die Fernbedienung. „Wie lange seid ihr schon zusammen?“
Wenn sie so redete und ich nicht auf die dicke Strumpfhose, den langen Rock, die langen Ärmel oder die Perücke achtete, die ihre Haare bedeckte, konnte ich mir einreden, es habe sich nichts geändert. So hatte sie mich auch früher immer ausgefragt, als ich noch zur Highschool ging, immer dann, wenn ich von einem Date kam. Sie wollte immer sofort hören, wie’s gewesen war. Sie klang jetzt so, wie meine Mom immer schon geklungen hatte, und ich würde ihr gern so antworten, wie ich damals geantwortet hätte. Aber seitdem war zu viel passiert. Das hatte mich misstrauisch gemacht.
„Ich habe ihn im Dezember kennengelernt“, sagte ich nur.
Sie öffnete einen der beiden Geschirrspüler unter der Arbeitsplatte und stellte einen Teller rein. „Nimm du diesen, der ist für fleischig , der andere ist für milchig .“
Ein Geschirrspüler für Fleisch, der andere für Milch. So hielt sie es auch bei den Tellern, beim Besteck, bei allen Töpfen und Pfannen. Die Mutter, bei der ich aufgewachsen war, hätte über so viel Aufwand gespottet. Aber inzwischen wusste ich, dass sie einfach unglaublich stolz darauf war, so fromm zu sein. Als ob sie dafür, dass
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