Nanking Road
Passanten anzuhalten und auf meine missliche Lage aufmerksam zu machen – als mir plötzlich einfiel, dass es so einfach nicht war. Was sollte ich zu demjenigen sagen: Hilfe, die Hitlerjungen benutzen dieselbe Straße wie ich …? Für niemanden außer mir war zu erkennen, dass sie mir folgten, ich hätte mich nur lächerlich gemacht.
Als ich in die nächste Seitenstraße wechselte und zurückblickte, waren die Lederknoten wieder zu viert – ein Anblick, der unangenehme Erinnerungen weckte. Ich kreuzte erneut, fühlte mich wie ein Hase. Was, wenn ich die Nanking Road weiterlief bis zum ersten großen Kaufhaus? Zwischen Regalen, Kleiderständern und Rolltreppen konnte man problemlos untertauchen. Gut, die Lederknoten brauchten nur an den Ausgängen auf mich zu warten, aber irgendwann würden sie schon die Lust verlieren und nach Hause gehen. Was konnten sie mir schon anhaben – hier in Shanghai, wo mir jeder, wirklich jeder Passant sofort zu Hilfe eilen würde, sobald es endlich anfing, gefährlich auszusehen!
Oder etwa nicht …? Plötzlich merkte ich, wo ich war, und hörte einfach auf zu denken. Ich trat zwei Stufen hinauf, nahm die Klinke in die Hand und das gewohnte Klingeln ließ mich ein.
Es war über ein Jahr her, seit ich das letzte Mal hier gewesen war, und trotz meiner Zwangslage war ich überwältigt von dem unerwarteten Gefühl der Vertrautheit. Der Schreibtisch, die Regale, die Wandkarte, der kleine Tisch und der Stuhl, auf dem ich immer gesessen hatte … sie standen unverändert da, als wäre ich erst gestern hier gewesen, und unverändert erschien mir auch Frau Kepler, als sie mit einer Hand den Vorhang beiseiteschob, der das Hinterzimmer vom Laden trennte, und vor mir im Türrahmen stand.
Ihr freundlich-distanziertes Gesicht, der kleine Turm grauer Haare auf ihrem Kopf, die hagere, dunkel gekleidete Gestalt … alles war wie immer; Frau Kepler schien nicht einmal besonders überrascht, mich zu sehen.
»Gibt es einen Hinterausgang?«, flüsterte ich statt einer Begrüßung.
Frau Kepler sah an mir vorbei und ich folgte ihrem Blick in der Befürchtung, meine vier Verfolger bereits hämisch durchs Schaufenster linsen zu sehen. Aber ich hätte es wissen müssen: Auf der Straße zeigte sich nicht die geringste Gefahr. Frau Kepler sah mich mit hochgezogenen Brauen an und ich fühlte meine Wangen glühen.
»Einen Hinterausgang gibt es nicht«, sagte sie. »Aber du kannst übers Dach.«
Sie trat beiseite und ließ mich in den Raum hinter dem Vorhang, in dem sich eine Kochstelle, ein Essplatz und eine Liege befanden. Eine Tür führte weiter ins Treppenhaus.
»Der Ausstieg zum Dach ist immer offen. Die Tür klemmt ein wenig. Das übernächste Haus rechts hat einen Hinterausgang zu einer kleinen Seitenstraße.«
Ich lief drei, vier Treppenstufen hinauf, dann fiel mir ein, dass ich mich gar nicht bedankt hatte. Aber als ich mich umdrehte, war Frau Kepler verschwunden, die Tür hinter ihr zu, und einen Augenblick fühlte ich mich seltsam jämmerlich und allein.
Wenn man davonläuft, setzt das Nachdenken erst einmal aus. Das ist nicht das Schlechteste, im Gegenteil: Die Beine funktionieren ganz von selbst, der Atem, der Kopf; alles, was man weiß, tut sich zusammen und bringt einen voran. Meistens jedenfalls. Wovor man sich unbedingt hüten sollte, ist stehen zu bleiben und sich irgendetwas klarzumachen : dass man in einem fremden Treppenhaus eingesperrt ist und der einzige Ausgang nach oben geht. Dass ein unbekanntes Dach wartet, dessen Tür klemmt, oder dass man überhaupt keine Vorstellung hat, wer oder was sich hinter dieser Tür befindet. Wenn man nämlich erst einmal steht und überlegt, besteht die Gefahr, in die nächste Ecke zu kriechen, und eine Ecke ist fast immer eine Falle. Aus einer Ecke hilft einem außer Glück nichts mehr heraus.
Im Kampf mit mir selbst verlor ich mehrere kostbare Sekunden. Dann fiel mir ein, dass die Lederknoten mittlerweile womöglich schon bei Frau Kepler im Laden standen, und dies gab mir endlich genug Schub die Treppe hinauf. Die Tür hinter dem letzten Absatz klemmte tatsächlich, aber als ich mich mit der Schulter dagegenwarf, gab sie nach und ich fand mich auf dem fremden Dach wieder, hörte den Straßenlärm und roch den Qualm, der von den Garküchen heraufzog.
Das übernächste Haus rechts, hatte Frau Kepler gesagt. Ohne weitere Zeit zu verlieren, kletterte ich aufs Nachbardach hinüber. Wenn die Lederknoten zwei und zwei zusammenzählten, waren sie
Weitere Kostenlose Bücher