Nanking Road
an Büchern und Schreibheften anzulegen und alles zu verschenken oder einzutauschen, was man in einem Lager nicht brauchen konnte. Als er den Transportbescheid bekam, muss er praktisch auf gepacktem Koffer gesessen haben.
Zum ersten Mal spürte ich, dass Bekka aufgab, allen Mut verlor. »Was soll ich jetzt noch hier, wo alle weg sind?«, schrieb sie in einer Schrift, die so klein und schief war, dass ich sie kaum erkannte. »Am liebsten ginge ich zurück nach Deutschland zu meinen Eltern, aber nicht einmal das geht ja noch!«
Mein Kopf war wie leergefegt, mir wollte einfach nichts einfallen, was ich ihr zurückschreiben konnte. Ich zerknüllte eine Seite nach der anderen und setzte von Neuem an, nur um gleich darauf die weggeworfenen Blätter wieder auseinanderzufalten und nach Sätzen zu suchen, die man vielleicht doch noch gebrauchen konnte.
Nichts konnte schlimmer sein, als allein in einem fremden Land zurückzubleiben. Nichts, was ich schrieb, würde Bekka helfen.
Doch schon wenige Tage später stieß ich auf einen Hoffnungsschimmer. Seit meinem zwölften Geburtstag durfte ich jeden Donnerstagnachmittag mit Judith ins Broadway Cinema. Nachdem uns Juden in Shanghai schon jede Straßenbahn, jede Bank im Park und jeder Tisch im Restaurant wieder offenstand, kam mir das Kino vor wie der Höhepunkt einer ganzen Reihe von Beweisen, dass mit uns alles wieder in Ordnung war.
Ich liebte alles am Kino: den Moment, in dem der schwere Vorhang sich öffnete, den Tanz der Staubfäden im trichterförmigen Lichtstrahl, der aus der Vorführkabine auf die Leinwand fiel, das Knacken und Knistern, mit dem der Film sich Sekunden vor Einsetzen der Musik ankündigte. Noch während der Vorspann mit den Namen berühmter Hollywoodstars über die Leinwand flackerte, vergaß ich alles um mich herum, und trat ich nach dem Film hinaus auf die Straße, brauchte ich immer ein paar Minuten, um wieder sprechen zu können. Dann tat es mir fast leid, dass Judith dabei war und ich nicht noch ein wenig Zeit für mich hatte.
Vor jedem Hauptfilm jedoch lief die Wochenschau der BBC . Es war dieselbe, die die Engländer auf der anderen Seite der Erdkugel sahen, wenn auch mit einigen Wochen Verspätung, und so marschierten die Alliierten vor unseren Augen noch zuversichtlich durch Frankreich, als wir aus dem Radio längst wussten, dass sie unter großen Verlusten zurückgeschlagen worden waren. Beklommen blickte der ganze Saal auf blutjunge, fröhliche Soldaten, die lachten und rauchten. Vielleicht lebten sie bereits nicht mehr.
Wenige Tage nach Bekkas Brief sahen wir einen mehrere Wochen zurückliegenden Bericht über die Internierung der »enemy aliens« auf der Isle of Man, der mir einen Stein vom Herzen fallen ließ. Denn im Speisesaal des Internierungslagers stand ein Klavier.
Ich war mir nicht hundertprozentig sicher. Hatte ich wirklich richtig gesehen? Die Worte Klavier und Lager waren schwer zusammenzubringen, am liebsten hätte ich den Vorführer angebettelt, zurückzuspulen. Dem Hauptfilm zu folgen war ich kaum in der Lage, obwohl Greta Garbo mitspielte, die so schön war, dass sie »die Göttliche« genannt wurde.
Als ich später am Ausgang Judith bestürmte, glaubte auch sie nach kurzem Nachdenken, ganz zweifellos ein Klavier im Speisesaal erkannt zu haben. Und ein Klavier im Speisesaal konnte nichts anderes bedeuten, als dass die Internierungslager für feindliche Ausländer nichts gemein haben konnten mit den Konzentrationslagern in Deutschland! Gut, hinter dem Stacheldraht waren die Juden zusammen mit deutschen Nazis eingesperrt, was schlimm genug war. Aber sie erhielten Post, es gab richtige Betten, eine Heizung und mehrmals am Tag zu essen, und die Häftlinge mussten zwar arbeiten, aber wurden dafür bezahlt. Eine Bibliothek war eingerichtet worden, Lehrer und Professoren unter den Gefangenen hielten Vorträge und unterrichteten.
»In seiner Gastfamilie in Cambridge hatte Thomas kein Klavier. Vielleicht sitzt er gerade jetzt im Speisesaal und übt, oder er gibt sogar ein Konzert …«, flüsterte ich.
»Ja, das kann man sich sehr gut vorstellen!«, versicherte Judith.
An diesem Abend schrieb ich wie aus dem Handgelenk einen zweiseitigen Brief an Bekka, in dem ich aus der Existenz des Klaviers im Speisesaal mühelos ableitete, dass es Thomas gut ging und Bekka ihn bestimmt wiedersehen würde. Und dies vielleicht sogar bald, konnte ich hinzufügen: »Unsere Nachbarn, die Fränkels, haben gerade heute Post aus England bekommen.
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