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Nanking Road

Nanking Road

Titel: Nanking Road Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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dabei, die du kennst.«
    Er starrte über seine Nähmaschine hinweg.
    »Bis nach Shanghai kommt aber bestimmt niemand«, sagte ich leise.
    Papa antwortete nicht, er versank in dumpfes Brüten. Mein Vater war Soldat im letzten Krieg gewesen, wahrscheinlich sah, hörte und roch er ihn immer noch, und ich schlich buchstäblich auf Zehenspitzen aus dem Raum. Mir reichte es, ich musste erst einmal selber nachdenken, bevor ich etwas Neues fragte – oder gar ungefragt erfuhr!
    Onkel Erik behauptete, es sei möglich, den Lärm der Straße auszublenden und es auf unserem Dach wunderbar still zu finden, und obwohl mir dies noch nicht gelingen wollte, war unser Dach, seit mir das Reisebüro verloren gegangen war, der Ort, an dem ich es zumindest versuchte. An diesem Tag war es immerhin still genug, um mich selbst zu hören, als ich das neue Wort vor mich hin flüsterte, seinen Klang schmeckte.
    Krieg. Was bedeutete es, was hatte Papa eben gesehen? Würde auch ich jemanden kennen, den es traf? Mein Herz klopfte schmerzhaft, als ich an Bekka dachte. Gerade noch hatte ich sie in Sicherheit geglaubt! Evchen, Tante Ruth. Würden sie hier bei uns sein, wenn es losging, oder ließ uns der Fü nicht mehr so viel Zeit?
    Krieg. Würden wir etwas davon bemerken, wenn er kam, oder würden wir nur wieder wochen- und monatelang ohne Nachrichten bleiben? Plötzlich erschien mir das eine so schlimm wie das andere, als mir klar wurde, dass ich womöglich wieder Tag für Tag vor einem leeren Postfach stehen würde, und ich hatte große Lust zu heulen, obwohl – oder vielleicht gerade weil – ich mir Krieg überhaupt noch nicht vorstellen konnte.

III
    DER MUND DES REGENBOGENS
    (1940–1944)

15
    Dass die Hitlerjugend in Hongkou marschierte, war neu. Bisher war sie stets auf der anderen Seite der Brücke geblieben, hatte ihre Paraden und Gesänge im Park veranstaltet oder sich herausfordernd auf dem Bürgersteig gezeigt. Schon mehrmals hatte ich sie marschieren sehen und sie gut ignorieren können. Der internationale Sektor gehörte allen – oder niemandem, wenn man es so sehen wollte –, also mochte sich von mir aus auch die Hitlerjugend dort herumtreiben. Ich fand sie ziemlich lächerlich in ihren hässlichen Braunhemden und Halstüchern mit Lederknoten und konnte fast lachen, wenn sie sich im Gleichschritt durch den chaotischen Straßenverkehr zwängten. Blöde blonde Jungen, die ein noch so wichtiges Gesicht machen konnten: Hier beeindruckten sie niemanden, nicht einmal mich.
    Dachte ich. Bis ich eines Nachmittags über die Garden Bridge in Richtung Settlement ging und die Gesänge in meinem Rücken … nein, nicht nur hörte, ich spürte sie, und aus dem ersten kalten Hauch wurde, je lauter das Grölen zu mir aufschloss, ein Griff, der sich fest um meinen Nacken legte.
    Und heu-te ge-hört uns Deutsch-land, und mor-gen die gan-ze Welt!
    Ich ging schneller und versuchte aus dem Gesang und Getrappel herauszuhören, wie viele und wie nah sie waren. Direkt vor mir lag das britische Postenhäuschen. Ich war völlig außer Atem, als ich dort ankam, dabei war ich nicht einmal gerannt.
    »Was guckst du, Judensau?«
    Einer spuckte mir vor die Füße, doch das war alles, schon sah ich den kleinen Trupp, der nur aus vier Jungen bestand, von hinten. Der britische Posten zischte: »Bloody brats!«
    Zu mir sagte er: »Keine Sorge, Miss, den Hunnen werden wir’s schon zeigen.«
    Glaubte er etwa immer noch daran? Binnen weniger Wochen hatte die deutsche Wehrmacht nach Polen und Norwegen nun auch Dänemark, Holland, Belgien und Luxemburg überrannt und das alliierte Heer in Frankreich hoffnungslos eingeschlossen. Nur mit viel Glück war es den Briten gelungen, versprengte Reste ihrer Armee an einem Strand in Belgien zu sammeln. Auf Schlachtschiffen, Frachtkähnen, privaten Booten, auf allem, was schwimmen konnte, hatten sie sich Hals über Kopf nach England gerettet und ihre Ausrüstung dabei verloren. In diesen Tagen hielt die Welt den Atem an, klebte vor dem Radio und erwartete die deutsche Invasion Englands.
    War das der Grund, warum die Hitlerjugend in Hongkou marschierte? Der Zeitpunkt konnte kein Zufall sein. Jetzt, sollte ihr kleiner Aufmarsch wohl heißen, kommen wir auch zu euch!
    Als ich das Ende der Brücke erreichte, war Judith verschwunden und tauchte auch nicht mehr auf, obwohl ich erst an der Brücke, dann am Parkeingang auf sie wartete. Seit im letzten Winter die Kadoorie-Schule eröffnet hatte, die für uns Flüchtlinge kein Schulgeld

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