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Nanking Road

Nanking Road

Titel: Nanking Road Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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erhob, trafen wir uns nur noch an zwei Nachmittagen pro Woche und ich war sicher, ihre rote Jacke gesehen zu haben, bevor ich das Grölen hinter mir gehört hatte.
    Hieß das, sie hatte tatsächlich die Flucht ergriffen – vor nicht einmal einem halben Dutzend Hitlerjungen, die ein gutes Stück jünger gewesen waren als sie, und dies auch noch auf der internationalen Seite der Brücke? Mit Sicherheit würde jeder Engländer, Amerikaner oder Franzose sofort eingreifen, wenn die Hitlerjugend sich uns gegenüber nicht benahm. Alle im Settlement hassten die Deutschen, seit der Krieg ausgebrochen war – mit Ausnahme der Russen, die sich gar nicht schnell genug mit dem Fü hatten verbünden können, als es darum ging, Polen anzugreifen und untereinander aufzuteilen.
    Auf der anderen Seite der Brücke fühlte ich mich augenblicklich sicher. Durften vier einzelne Hitlerjungen überhaupt marschieren ohne den Rest ihrer Truppe, das Fähnlein und den Rudelführer? Wahrscheinlich nicht. Rachsüchtig hoffte ich, dass irgendjemand sie meldete und sie richtig Ärger bekamen. Vielleicht würden sie sogar ausgeschlossen! Ich musste grinsen, als ich mir ausmalte, wie die Hitlerjungen öffentlich und unter Tränen alles ablegen mussten, worauf sie so stolz waren. Das Halstuch. Die Blechorden. Den Lederknoten!
    Aber da ich nicht wusste, was Judith in Deutschland erlebt und ob die Hitlerjugend in irgendeiner Weise dabei eine Rolle gespielt hatte, beschloss ich, mich über ihren überstürzten Rückzug nicht zu wundern. Judith redete nie über ihre Zeit in Deutschland und obwohl ich uns als Freundinnen betrachtete, kannte ich weder ihr Zuhause in Shanghai, noch besuchte sie mich je in der Chusan Road.
    Judith hatte mich getröstet, als der Bescheid gekommen war, wir Flüchtlinge aus Hongkou würden der neuen Schule zugewiesen. Ich war in Tränen ausgebrochen, als ich davon erfuhr; erst in diesem Augenblick war mir klar geworden, wie sehr ich mich an die Jewish School gewöhnt hatte, die mir anfangs so fremd gewesen war.
    »Bestimmt«, meinte Judith, »kann man einen Antrag stellen, dass du bleiben möchtest!«
    Doch meine Eltern wollten nichts davon wissen. »Wir sind froh, von Konitzers kein Geld mehr nehmen zu müssen!«, sagte Mamu mit Nachdruck.
    »Aber wir verdienen doch jetzt selbst genug«, jammerte ich.
    Schließlich entschied Papa: »Na gut! Wenn es dir so viel bedeutet, werden wir dir das Schulgeld bezahlen, aber mach dir klar, dass wir dann noch länger für Evchen und Tante Ruth werden sparen müssen.«
    Mein Wunsch blieb mir im Halse stecken. Ich war entsetzt und zugleich tief enttäuscht von meinem Vater, dass er mich so beschämt hatte.
    »Dann treffen wir uns eben zum Laufen«, bestimmte Judith.
    Noch nie hatte sie unsere Verabredung platzen lassen, und es fiel schwer, mir einzugestehen, dass sie nicht zurückkam. Nach einer Viertelstunde machte ich enttäuscht kehrt, allerdings nicht ohne mich immer wieder umzudrehen in der Hoffnung, Judith doch noch zu erspähen.
    Aber die Einzigen, die ich entdeckte, waren die Lederknoten. Zwei liefen hinter mir, vielleicht fünfzig Meter entfernt, zwei warteten kurz vor der Brücke, und ihr Grinsen ließ keinen Zweifel aufkommen, dass ich es war, auf die sie es abgesehen hatten.
    Im ersten Augenblick war ich wie vom Donner gerührt. Ein Angriff der Hitlerjungen, hier in Shanghai! Und es waren nicht einmal Richard und seine Truppe, meine treuen alten Feinde, sondern Jungen, die ich gar nicht kannte! Sie hatten mich aus Hongkou kommen sehen und daraus geschlossen, dass ich Jüdin sein musste, aber war das etwa ein Grund, auf mich loszugehen? Oder hatte es ihnen nur nicht gepasst, dass ich beim britischen Posten Schutz gesucht hatte?
    Es war müßig zu überlegen, was in ihren widerwärtigen Köpfen vor sich ging – entscheidend war, ihnen aus dem Weg zu gehen, und darin hatte ich Übung. Ich verlor keine Zeit, überquerte halsbrecherisch die Straße, mischte mich unter die Passanten und ging zurück in die Gegenrichtung. Nach einigen Metern riskierte ich einen vorsichtigen Blick, und tatsächlich, die beiden, die mir gefolgt waren, hielten nach einer Lücke im Verkehr Ausschau, um ebenfalls die Seite zu wechseln. Was aus den zweien geworden war, die an der Brücke gewartet hatten, wusste ich nicht, aber es gehörte nicht viel Fantasie dazu, mir auszumalen, dass auch sie mich nicht aus dem Blick verloren hatten.
    Kurz entschlossen sah ich mich um, um den nächstbesten geeigneten

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