Nanking Road
kamen, die die Fürsorge nicht weiter belasteten, und wurde bei der Ankunft in Shanghai wieder ausgezahlt. Für die, die die Summe nicht aufbringen konnten, stellte eine Londoner Flüchtlingsorganisation das Geld leihweise zur Verfügung, aber die Warteliste war lang und zudem hing alles davon ab, dass das Pfand nach der Ankunft für die nächsten Wartenden zurückgegeben wurde. Seit etliche Flüchtlinge das Geld einfach behalten hatten, war das klug ausgedachte Programm ins Stocken geraten.
Wir wagten nicht länger zu warten – was, wenn die Einreise in der Zwischenzeit ganz verboten wurde? Das Geld für die beiden Schiffspassagen hatten wir gespart, einen Teil der 800 Dollar Pfand versprachen Konitzers uns zu leihen, auch Fränkels wollten sich beteiligen. Doch den Rest mussten wir noch zusammenkratzen.
Es war ein Gefühl, als finge man wieder ganz von vorn an, als sei nicht nur unser Reisekonto, sondern unser ganzes erstes Jahr mit all seinen Anstrengungen und Entbehrungen auf einen Schlag entwertet worten. Selbst Mamu, die schon darüber zu witzeln begonnen hatte, dass ihre friedliche Zeit ohne Tante Ruth alarmierend schnell dem Ende zuginge, hatte geweint.
Dennoch glaubte ich, dass Onkel Erik und meine Eltern von diesem Rückschlag nicht halb so niedergeschmettert waren wie Bekka. Denn auch für Liebichs hatte es ja Pläne gegeben, Pläne, die mit dem Kriegsausbruch unwiderruflich zerstört worden waren. Die Einwanderung deutscher Staatsangehöriger nach England war nicht mehr möglich. Es interessierte niemanden, dass es sich um Juden handelte oder dass Bekka Arbeit für ihre Mutter gefunden hatte und nur noch die Formalitäten ausstanden. Auch die Kindertransporte waren eingestellt.
»Wäre Hitler nur vier Wochen später in Polen einmarschiert, hätte Mami es geschafft«, schrieb Bekka verzweifelt.
Ihr Brief traf mich tief. Wie Bekka zumute war, konnte ich besser nachfühlen, als mir lieb war. Das unverdiente Glück, mit meinen Eltern zusammen ausgewandert zu sein, wurde mir deutlicher bewusst denn je, und zwischen Erleichterung und schlechtem Gewissen klang jedes aufmunternde Wort, das ich Bekka schrieb, hilflos und falsch, und wenn ich es noch so ehrlich meinte.
Meine Sorge, nach Kriegsausbruch wieder vor einem leeren Postfach stehen zu müssen, war unbegründet gewesen. Noch nie waren so viele Briefe zwischen uns und Europa hin und her gegangen wie seit dem letzten Herbst. Der Postverkehr zwischen England und Deutschland war eingestellt, ohne unsere Hilfe hätten Bekka und Thomas nur noch über das Rote Kreuz zu ihren Eltern Kontakt aufnehmen können.
Es war das Einzige, was wir für Liebichs tun konnten, und sie schrieben, als könnte es jeden Augenblick damit vorbei sein. Briefe von oder für Liebichs riss ich noch am Postfach auf, steckte den für England oder Deutschland bestimmten Teil in einen mitgebrachten Umschlag, adressierte und frankierte ihn und sogleich machte er sich auf den langen Weg zurück nach Europa. Manchmal war eine Seite für uns dabei, meist nicht. Dass Bekka auf meine eigenen Briefe immer seltener antwortete, machte den Ernst ihrer veränderten Lage nur noch deutlicher.
Nie verloren meine Eltern oder Onkel Erik ein Wort über die Kosten, die durch das Weiterleiten der Briefe entstanden. Liebichs und Tante Ruth lebten zusammen, kümmerten sich umeinander; es war, als wären wir mit einem Mal eine Familie geworden, und so weit wir von Deutschland entfernt waren, so nahe rückte es uns mit jedem Brief, der in unserem Fach landete und Bekkas, Thomas’ oder Frau Liebichs Handschrift trug.
Ich war nicht unvorbereitet auf das, was Bekka mir im Juni schrieb. Ich wusste, dass es ihre größte Sorge gewesen war, seit die Engländer nach Deutschlands Überfall auf Belgien und Holland die ersten deutschstämmigen jüdischen Männer als »feindliche Ausländer« in Lager gesperrt hatten. In ihrer Furcht vor Spionen unterschied die britische Öffentlichkeit nicht zwischen Deutschen und Juden; beide kamen aus Feindesland, das war alles, was zählte, und es überraschte mich nicht. Warum sollten sich die Briten mit der komplizierten Frage des Unterschieds zwischen Deutschen und Juden abgeben wollen, die in meinen Augen sowieso nur jeder von uns für sich selbst beantworten konnte?
Thomas war sechzehn geworden, zählte als erwachsen und rechnete jeden Tag damit, interniert zu werden. Er war so sehr darauf eingestellt, dass er schon vor dem Geburtstag begonnen hatte, einen kleinen Vorrat
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