Nanking Road
womöglich schon auf dem Weg nach oben. Erst jetzt ging mir auf, wie leichtsinnig es gewesen war, vor den Hitlerjungen ausgerechnet zu einer Deutschen zu flüchten. Frau Kepler brauchte ihnen nur den Tipp zu geben, mich vor dem Hinterausgang des übernächsten Hauses rechts abzupassen, und ich saß fest – genau wie bei meiner letzten Begegnung mit Richard und seiner kleinen Truppe. Die Narbe an meiner Unterlippe hatte ich immer noch.
Ich stand in der Tür, die nach unten führte, und einige Sekunden war ich wie gelähmt. Dann blickte ich zurück über die Dächer – natürlich, auch hoch über der Nanking Road gab es Möglichkeiten, in mehrere Himmelsrichtungen zu verschwinden! Und plötzlich war mein Kopf wieder klar; kurz entschlossen überstieg ich Dach um Dach, bis es in die entgegengesetzte Richtung nicht mehr weiterging. Dort schlüpfte ich durch eine knarzende Holztür und schlich die Treppe hinunter. Unten gab es nur einen einzigen Ausgang, ich würde also wieder auf der Nanking Road landen, aber daran ließ sich jetzt nichts mehr ändern.
Langsam, Zentimeter für Zentimeter, öffnete ich die Tür und atmete erleichtert auf: Weit und breit kein Lederknoten zu sehen.
Ich nahm die Beine in die Hand und rannte den ganzen Weg zurück zur Garden Bridge, ohne mich auch nur ein einziges Mal umzudrehen. Entwischt – den Lederknoten und Frau Kepler! Während mein Atem allmählich wieder einen Rhythmus fand, war ich fast noch wütender auf sie als auf die Hitlerjungen. Weil ich mich trotz allem gefreut hatte, sie wiederzusehen. Weil ich nicht wagte, ihr zu vertrauen. Weil ich froh gewesen wäre, wenn sie auf meiner Seite gestanden hätte – und weil ich diesen Wunsch selbst nicht verstand.
Später behauptete Judith, ich müsse mich getäuscht haben, sie wäre gar nicht an der Brücke gewesen, sie hätte unerwartet ihrer Mutter helfen müssen und mich nicht mehr rechtzeitig benachrichtigen können. Ich ließ mir nichts anmerken. Ich war ganz sicher, sie gesehen zu haben, und es beschämte mich, sie lügen zu hören, aber hatte nicht jede von uns ihre kleinen Geheimnisse?
Tante Ruth mochte ihre Arbeit auf dem Friedhof. Sie war zur Zwangsarbeit verpflichtet worden, obwohl sie ein kleines Kind zu versorgen hatte, aber anscheinend machte sie sich nichts daraus: »Susanna und Hermann sind ja auch dabei und ich komme an die frische Luft und unter Leute.«
»Susanna und Hermann« waren Bekkas Eltern. Wie schnell sie sich angefreundet hatten und wie gut sich die freundlichen, unkomplizierten Liebichs mit meiner launischen Tante vertrugen, verblüffte mich noch weit mehr als Tante Ruths neu entdeckte Freude an frischer Luft. Solange wir unter einem Dach gelebt hatten, hatte sie aus lauter Angst die Wohnung nie verlassen. Aber wahrscheinlich hätte sie jetzt sowieso keine Wahl gehabt.
Es versetzte mir einen unerwarteten Stich, mir Tante Ruth auf dem Friedhof vorzustellen. Bekka und ich hatten dort eins unserer Lieblingsverstecke gehabt, und ich kannte diesen Friedhof so gut, dass ich nahezu Heimweh verspürte, als ich Tante Ruths Zeilen las. Sie harkte Wege, pflegte Gräber, schnitt Büsche, vielleicht sogar unseren Busch mit der geheimen Höhle darin. Hätten wir uns besser verstanden, hätte ich meiner Tante auf der Stelle geschrieben, wo sich unser Versteck befand, aber es schien mir zu vertraulich und ich ließ es sein, wobei ich zum ersten Mal Enttäuschung verspürte über die Fremdheit zwischen uns.
Ihre Wohnung hatte Tante Ruth aufgegeben. Bei Liebichs war nach dem Weggang von Bekka und Thomas reichlich Platz; sie und Evchen hatten die beiden ehemaligen Kinderzimmer bezogen, und Liebichs Vermieter hatte ihnen ausdrücklich zugesichert, bleiben zu dürfen, obwohl Nachbarn bereits mit dem Wunsch an ihn herangetreten seien, die »Judenwohnung« zu übernehmen. Zwar hatte er danach ziemlich großzügig die Miete erhöht, aber zwei Familien zusammen konnten die Kosten bewältigen.
Das Judenhaus blieb unseren Verwandten erspart, das war erst einmal die Hauptsache. Selbst Onkel Erik musste es zugeben, der schwer damit fertigwurde, dass wir für die Auswanderung von Evchen und Tante Ruth jetzt noch viel mehr Geld benötigten. Juden, die bereits Verwandte in der Stadt hatten, durften zwar noch einreisen, doch nur unter der Voraussetzung, dass bei der Buchung der Tickets ein Pfand von 400 US -Dollar pro Person bei der Schifffahrtsgesellschaft hinterlegt wurde. Das Geld sollte sicherstellen, dass nur Flüchtlinge
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