Nanking Road
Darin stand, dass viele Engländer sich bereits für die Freilassung der Juden aus den Internierungslagern einsetzen. Die Pflegemutter von Jakob Fränkel war sogar selbst bei einem Protestzug dabei!«
Weitere Details der Diskussion, die sich über den Brief aus England in unserem Hausflur entsponnen hatte, schrieb ich Bekka aber lieber nicht.
»Die Engländer haben den Ruf, gerecht und besonnen zu sein«, meinte Papa. »Natürlich werden sie zur Vernunft kommen und merken, wen sie da eingesperrt haben.«
»Falls sie dazu überhaupt noch Gelegenheit haben«, versetzte Herr Fränkel. »Wenn die Deutschen England überfallen, wird es den Juden dort nicht besser gehen als in Deutschland.«
»Ach was! Die englische Zivilgesellschaft funktioniert, unterschiedliche Religionen sind dort ganz normal. Die Engländer werden nicht zulassen, dass Hitler sich an ihren Minderheiten vergreift!«
»Sind Sie da so sicher? Ich glaube, mein Freund, wenn es zu einer deutschen Invasion kommt, werden die Engländer andere Sorgen haben, als die Juden zu schützen.«
»Wir werden sehen«, schaltete sich Onkel Erik ein, »was in Holland und Frankreich passiert.«
Ich rutschte verstohlen auf die nächste Treppenstufe hinunter und riskierte einen Blick. Die drei Männer standen ein Stockwerk tiefer und sahen einander besorgt an. Viele deutsche Juden waren in den letzten Jahren ins neutrale Holland geflohen, auch einige Klassenkameraden von mir. Hieß das etwa, sie waren dort nicht mehr sicher?
Ich verhielt mich still, damit die Erwachsenen nicht meinetwegen das Gespräch unterbrachen. Fränkels besaßen ein Kurzwellenradio, mit dem sie die Nachrichten der BBC empfangen konnten, und meine Eltern gingen oft zum Radiohören hinunter, aber mich nahmen sie dabei nie mit. Warum eigentlich? Wollten sie wirklich nur einen Erwachsenenabend verbringen, wie ich bisher angenommen hatte, oder verbargen sie etwas vor mir?
Ich war mir selbst nicht sicher, ob ich dieses Etwas wissen wollte, aber mit einem Mal hatte ich das Gefühl, um Bekkas willen sehr genau zuhören zu müssen.
Als sich Frau Fränkels entsetzte Stimme erhob, zuckte ich unwillkürlich zusammen. Frau Fränkel klang genau wie damals, als sie verwirrt und weinend im Regen auf dem Dach gestanden hatte.
»Wir müssen Jakob sofort aus England herausholen!«
»Das haben wir doch alles schon besprochen, Anita.« Herr Fränkels Stimme nahm einen ungeduldigen Ton an. »Wenn in London der Krieg ausbricht, geht seine Pflegemutter mit Jakob aufs Land. Sie haben schon vor Monaten ein Pensionszimmer angemietet.«
»Aber seine Pflegeeltern sind doch selbst Juden! Wenn die Deutschen sie auch …!«
»Dann kommt die andere Familie ins Spiel, das weißt du doch.«
Frau Fränkel verstummte. »Die … andere Familie?«, fragte Onkel Erik leise.
Herr Fränkel druckste ein wenig herum. »Das ist der Plan«, gab er schließlich kleinlaut zu. »Jakobs Pflegeeltern haben es selbst vorgeschlagen. Der Kleine kann bei nichtjüdischen Bekannten von ihnen unterschlüpfen, wenn es nötig wird. Sie haben drei Kinder und würden Jakob als ihr eigenes ausgeben.«
»Aber das ist doch Wahnsinn!«, rief Onkel Erik ungläubig.
»Natürlich hoffen wir, dass es nicht notwendig sein wird, aber man sollte auf alles vorbereitet sein, meinen Sie nicht?«, verteidigte sich Herr Fränkel.
Ich hörte ein Poltern auf der Treppe, aber kam nicht mehr dazu, in die Wohnung zurückzuhuschen; schon trampelte Onkel Erik an mir vorbei, blass vor Wut. Onkel Erik hatte genug Sorgen wegen Tante Ruth und Evchen, wenigstens Betti hatte er in Sicherheit geglaubt – bis gerade eben. Er war so aufgebracht, dass er mich gar nicht wahrnahm.
»Ja, ist denn die ganze Welt verrückt geworden?«, schrie er, bevor er die Tür heftig hinter sich ins Schloss warf.
Ich hielt den Atem an. Unten scharrte jemand unbehaglich mit dem Schuh.
»Das ist gut möglich«, hörte ich meinen Vater leise sagen.
16
Der zweite Sommer in Shanghai kam mir noch mörderischer vor als der, den wir im Jahr zuvor erlebt hatten. Die heiße, feuchte Luft konnte man kaum atmen, zischend verdampften Regenschauer auf dem Pflaster und Scharen von Moskitos fielen über uns her, die nicht nur lästig waren, sondern Malaria übertragen konnten. Aber lange bevor die »Kleine Hitze« Mitte Juni von der »Großen Hitze« abgelöst wurde, spürte ich, dass sich etwas verändert hatte.
Lag es an all den neuen Sorgen, die in der Luft mitschwangen, dem ungesunden Klima, den
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