Nanking Road
Hauseigentümer, um das ich sie beneidete. Meine Eltern und ich schwitzten unter Moskitonetzen und jedes Mal, wenn ich mich umdrehte, gab es ein schmatzendes Geräusch, weil ich praktisch an meiner Bambusmatte klebte. Die Benutzung von Laken und Matratzen hatten wir aufgegeben, weil sie binnen kürzester Zeit durchweichten, aber die Gewohnheit vieler chinesischer Familien, im Sommer einfach ihre Liegen draußen aufzustellen, stand für meine Eltern nicht zur Diskussion. Die umliegenden Straßen waren nachts ein großer Campingplatz – Hunderte Chinesen in Pyjamas, ich neidisch am Fenster.
Onkel Erik zündete sich eine Zigarette an. Es erforderte Geduld, weil auch Streichhölzer bei diesem Wetter feucht wurden. Als er es endlich geschafft hatte, erklärte er, der Unterschied zwischen Flüchtlingen und Einheimischen sei der zwischen Hungern und Verhungern. Das müsse nicht so sein, es gebe in dieser Stadt auch viele wohlhabende Chinesen, aber im Gegensatz zur großherzigen Unterstützung, die der Joint , die Sassoons und Kadoories den verarmten Juden gewährten, sei Solidarität in der chinesischen Kultur nicht üblich. Man tat nichts für jemanden, der nicht zur eigenen Verwandtschaft gehörte – es sei denn, der andere bezahlte dafür.
»In China mischt sich niemand in fremde Angelegenheiten ein«, erklärte Onkel Erik. »Das schließt Hilfe füreinander praktisch aus.«
»Das macht doch alles noch viel schlimmer!«
»Eben. Aber es ist schwer, Leuten, die in ihren Traditionen leben, unser Denken begreiflich zu machen. Wir können mit gutem Beispiel vorangehen und zeigen, dass es auch anders geht, aber tatsächlich etwas ändern … das müssen sie schon selbst.«
»Wie denn? Die Chinesen und wir haben doch fast nichts miteinander zu tun.«
Onkel Erik sah mich nachdenklich an. »Das ändert sich ja bereits. Immer mehr von uns arbeiten mit Chinesen zusammen. Es sind friedliche, fleißige, höfliche Menschen …«
»Soll das ein Witz sein?«, entfuhr es mir. »Wenn ich schon höre, wie sie den Rotz aus der Nase ziehen! Wenn man nicht rechtzeitig zur Seite springt, landet einem der Schnodder praktisch auf dem Schuh!«
Ich schüttelte mich. Onkel Erik lachte. »Weißt du, dass es für die Chinesen genauso widerlich ist, wenn wir uns in ein Taschentuch schnäuzen, das wir sogar mehrfach benutzen?«
Wie aufs Stichwort flog die Tür auf und Oma Hu erschien auf dem Dach, um einen aufgeregten Redeschwall auf uns loszulassen. »Walkee bottom-side«, drängte sie Onkel Erik, worauf der sich bereitwillig erhob. Wahrscheinlich war bei Hus wieder irgendetwas kaputtgegangen. Seit Hus entdeckt hatten, dass Onkel Erik gelernter Schreiner war, stand er bei ihnen ganz hoch im Kurs.
»Siehst du«, bemerkte er zufrieden. »Es geht voran! Dass eine Chinesin eine Langnase um Hilfe bittet, ist alles andere als selbstverständlich.«
»Einen weißen Teufel«, verbesserte ich, denn der Spitzname der Einheimischen für uns war wohlbekannt. Aber Onkel Erik lächelte nur, verbeugte sich leicht vor Oma Hu und ging hinter ihr die Treppe hinunter.
Am liebsten wäre ich noch länger auf dem Dach geblieben, aber seit einigen Monaten leistete auch ich meinen Beitrag zum Familieneinkommen: Ich trug Papas Aufträge aus. Es war keine schwere Arbeit; in Packpapier gewickelt, passten die Hemden gut in meinen Schulranzen. Dennoch tropfte mir der Schweiß buchstäblich von der Nasenspitze, kaum dass ich die Straßenecke erreicht hatte, und das Baumwolltuch, das jeder im Sommer trug, um Kragen und Kleidung zu schützen, hing mir im Nacken wie ein nasser Lappen.
Ich beschloss, es ruhig angehen zu lassen, und schlenderte ohne Hast auf der schattigen Seite der Straße. Seit ich die Aufträge austrug, hatte ich Hongkou schon recht gut kennengelernt. In der Chusan Road hatten weitere Cafés und Restaurants eröffnet, die fest in der Hand österreichischer Juden waren – unsere Ecke wurde bereits »Little Vienna« genannt. Drinnen saßen die Flüchtlinge bei Kuchen mit »Schlagobers«, lasen Zeitungen, spielten Karten, sangen Heimwehlieder und tauschten die neuesten Nachrichten aus. Mamu, die den weiten Weg zum Krankenhaus satt hatte, hatte versucht, bei »Ollendorf« und im »Café Europa« Arbeit zu finden, doch es war zwecklos. Als Gäste hatten sie nichts gegen uns, aber einstellen wollten die Österreicher uns »Piefkes« nicht.
Einige Straßenzüge weiter, in »Little Berlin«, waren die deutschstämmigen Einwohner mit ihren Antiquariaten und
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