Nanking Road
Entbehrungen, an allem zusammen? Die meisten Flüchtlinge waren in deutlich schlechterer Verfassung als noch vor einem Jahr. Die Gesichter waren grau, die Wangen zu tiefen Höhlen eingefallen, darüber spannte sich dünne, papierene Haut. Viele hungerten sich von einer kargen Heimspeisung zur nächsten und wenn sie mit ihren Henkeltöpfen in der Schlange vor der Essensausgabe anstanden, sahen sie aus, als sei ihnen alles egal. Es erschreckte mich, denn es gab wohl niemanden unter ihnen, der sich nicht wie wir zuvor unter großen Mühen hierher gerettet hatte.
Den Chinesen erging es noch schlechter. Hatte ich früher für selbstverständlich gehalten, dass die Toten am Straßenrand durch Altersschwäche oder Krankheiten dahingerafft worden waren, so wusste ich es inzwischen besser. Die Einheimischen verhungerten, weil sie im Gegensatz zu uns keinerlei Unterstützung bekamen, sie waren im Winter zu Tausenden erfroren und auch Auseinandersetzungen mit der Besatzungsmacht endeten nicht selten tödlich. Eines Morgens hatte ein Nachbar mit blassem Gesicht an der unteren Kinchow Road gestanden und uns Schüler gezwungen, einen Umweg zur Schule zu nehmen. Später erfuhr ich, warum: Die Köpfe ermordeter Chinesen waren für alle sichtbar an Pfosten aufgespießt worden und der Anblick sollte uns Kindern erspart bleiben.
Seitdem blickte ich mit anderen Augen von unserem Dach. Hinter den Türmen des Ward Road-Gefängnisses, die sich drohend über die Häuser der Nachbarschaft erhoben, mussten sich unbeschreibliche Dinge abspielen. Ein Junge aus meiner Klasse hatte kurze Zeit in einem Haus gegenüber gewohnt und nach der Sache mit den aufgespießten Köpfen erzählt, dass seine Mutter den Vorhang zur Straße nie geöffnet und das Fenster stets geschlossen gehalten hatte. Sonst hätten sie direkt in einen Verhörraum geblickt, in dem Gefangene gefoltert wurden.
»Wir haben es nur zwei Wochen ausgehalten«, sagte mein Klassenkamerad leise. »Jede Nacht musste man die Schreie mit anhören.«
Meine Eltern schienen längst Bescheid gewusst zu haben. Ich erkannte es an den Ausflüchten, in die Papa sich zurückzog, als ich ihn danach fragte. Nur Onkel Erik nahm wie immer kein Blatt vor den Mund.
»Seit letztem Jahr wurden in Shanghai fast dreißigtausend Leichen von der Straße gesammelt«, sagte er grimmig. »Die, die einfach in den Fluss geworfen wurden, sind noch nicht einmal mit eingerechnet.«
»Erik …«, murmelte Papa warnend.
»Euer Kind hat doch Augen im Kopf. Besser, man weiß, womit man es zu tun hat!«
»Ich will es aber gar nicht wissen!«, rief Papa. »Wer weiß, wie lange wir es hier noch aushalten müssen, und helfen können wir diesen armen Menschen sowieso nicht.«
»Hör dich nur an, Franz! Hättest du so etwas letztes Jahr auch schon gesagt?«
Mein Vater blinzelte irritiert von seiner Nähmaschine auf. Es tat mir weh, sein trauriges Gesicht zu sehen, seinen gebeugten Rücken und die knochigen, schweißglänzenden Schultern, die durch das löchrige Unterhemd stießen. Papa verließ kaum noch dieses kleine Zimmer, in dem sich körbeweise zerschlissene Kleidung türmte. Im feuchten Klima begann Stoff schnell zu schimmeln, wurde dünn und zerriss in den Händen, und obwohl Papa viel Geschick dabei entwickelte, aus zwei kaputten Kleidungsstücken ein tragbares neues zu machen, dauerte das Ausbessern jetzt viel länger, ohne dass er seine Preise erhöhen konnte. Es gab genügend Schneider in der Stadt und keiner konnte sich leisten, Kunden zu verlieren.
Ich bedauerte, die Diskussion überhaupt angestoßen zu haben; am liebsten hätte ich Onkel Erik angefahren, er solle Papa in Ruhe lassen. Er hatte schließlich gut reden! Nachts durchstreifte er gemütlich sein luftiges Fabrikgelände, vormittags schnarchte er ungestört auf dem Dach, um schließlich nach dem Abendessen mit einer späten Fähre wieder zur Arbeit zu fahren. Zwischendurch erledigte er unsere paar Einkäufe auf dem Markt. Onkel Erik sah rosig und gesund aus. Er hatte kein Recht, Papa zurechtzuweisen, bloß weil der keine Kraft mehr hatte für die Sorgen der Chinesen!
Später saßen mein Onkel und ich auf dem Dach, zwischen uns eine der Weihrauchspiralen, die grünlichen Qualm absonderten, um Moskitos fernzuhalten. Mithilfe einiger Pfosten und Matten hatte Onkel Erik einen Sonnen- und Regenschutz errichtet, unter dem man es bei diesen Temperaturen noch am besten aushielt. Familie Hu rollte dort nachts ihre Matten aus, ein Privileg der
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