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Nanking Road

Nanking Road

Titel: Nanking Road Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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Leihbüchereien in der Überzahl. Ich war ziemlich überrascht, dass an diesem Nachmittag ein Berliner einfach so die Grenze überschritt und sein Ladenschild in »Little Vienna« anbrachte. Das Schild war geheimnisvoll mit dunkler Pappe verhüllt.
    »Heute Abend ist Eröffnung«, rief Herr Simon mir zu. »Sagst du deinen Leuten Bescheid?«
    »Mach ich«, versprach ich und blieb stehen. »Was wird denn das überhaupt?«
    »Na, ein Café«, sagte Herr Simon stolz. »Und nicht noch ein Café Vienna , darauf kannst du Gift nehmen!«
    »Dann heißt es bestimmt Café Berlin «, riet ich, aber Herr Simon wollte nichts verraten und machte nur ein verschmitztes Gesicht.
    Ich schlenderte weiter, vorbei am Wiener Delikatessenladen, an Schuhläden, Schnapsläden und kleinen Geschäften mit chinesischer und europäischer Kleidung. Die Chusan, Wayside und Ward Road hatten vor drei Jahren im Zentrum der japanischen Angriffe gelegen, aber die einstigen Trümmergebiete waren wieder aufgebaut worden und zählten nun zu den beliebtesten Gegenden Hongkous.
    Sehr chinesisch ging es vor und in der Markthalle am Ende der Straße zu. Chinesisch , das hieß für mich Lärm, Geschrei und Gedränge, und ich schnallte mir die Schultasche mit ihrem kostbaren Inhalt vorsichtshalber vor den Bauch, während ich mich durch die Menge zwängte. Onkel Erik machte es Spaß, hier einzukaufen, aber er überragte die meisten Leute ja auch um einen Kopf. Ich hingegen wurde zwischen Rücken und Bäuchen fast zerdrückt und erhaschte höchstens ab und zu einen Blick in Holzfässer voller Karpfen oder Aale, auf Berge wild durcheinander krabbelnder Krebse oder auf lebende Frösche, Schlangen und Hühner, die in Kisten und Bambuskörben auf ihre Schlachtung warteten.
    Ein unbeschreiblicher Gestank umwehte die Fleischstände; ich befürchtete, dass es der Gestank der Angst dieser armen Tiere war. Den Teil des Marktes, wo traurige Hunde aus ihren Käfigen blickten, mied selbst Onkel Erik. Ein Mann kam mir entgegen, der an einer dünnen, gehäuteten Schlange knabberte, ein Junge nagte, lutschte und knackte an einer Hühnerkralle. Ich war froh, als ich den Markt endlich hinter mir gelassen hatte.
    Ganz in der Nähe – in einer kaum zwei Meter breiten Gasse, in der es viele Pfandleiher und Wechselstuben gab, deren Inhaber über klackernde Abakus-Rahmen gebeugt hinter offenen Fensterchen saßen –, hatte ich das erste Paket auszuliefern. Zielstrebig trat ich durch die wie üblich unverschlossene Haustür, durchquerte das Erdgeschoss, gelangte von dort in den ersten und zweiten Hinterhof und stapfte ganz am Ende die Treppe zur bescheidenen Behausung der Familie Erdmann hinauf, wo ich mich mit dem deutlich vernehmbaren Ruf: »Frau Erdmann, die Hemden!« ankündigte.
    Es war immer ein wenig unangenehm für mich, unversehens auf einen Klassenkameraden zu stoßen. Dass Hansi ein Erdmann war, hatte ich gar nicht gewusst.
    »Meine Mutter ist nicht da«, sagte er statt einer Begrüßung. »Und Geld hat sie auch keins dagelassen.«
    Alle Aufträge notierte Papa in einem kleinen Heft, das er mir mit auf den Weg gab. Mehr als zwei, drei Kunden pro Nachmittag waren es zwar nie; ich hätte mir gut merken können, was jeder schuldig war, und war eher in Sorge, das Heft zu verlieren. Aber Papa, der sehr gewissenhaft war, wollte, dass die Leute erkannten, dass alles seine Richtigkeit hatte.
    Ich konsultierte das Heft. Einem Kunden den geschuldeten Betrag schwarz auf weiß vor die Nase halten zu können, hieß nicht, dass er ihn anstandslos bezahlte – eine Situation, vor der ich schon mehrmals peinlich berührt gestanden hatte. Aber bei Erdmanns waren immerhin keine alten Schulden vermerkt und ich erklärte: »Dann musst du hier unterschreiben, dass du die Hemden erhalten hast, und deine Mutter bezahlt beim nächsten Mal.«
    »Ich hab aber nichts zu schreiben«, sagte Hansi wie aus der Pistole geschossen.
    Stumm hielt ich ihm den Bleistift hin, den ich vorsorglich ebenfalls in der Schultasche hatte.
    »Erst mal muss ich sehen, wie die Hemden geworden sind«, verlangte Hansi.
    Ich legte das braune Päckchen auf eins der beiden Betten und entnahm ihm die Hemden. Das Packpapier glättete ich sorgfältig und steckte es wieder ein, während Hansi tat, als verstünde er irgendetwas von Nähten.
    »In Ordnung«, erklärte er schließlich widerwillig und setzte ein Gekrakel in Papas Heft.
    Die nächste Adresse lag in einer Straße, an deren unterem Ende chinesische Medizin verkauft

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