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Nanking Road

Nanking Road

Titel: Nanking Road Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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Dann schob sie es zu mir hinüber. »W ist besser«, stimmte ich zu.
    »Na, dann kann es ja losgehen«, meinte Elwi zufrieden und richtete ihre erwartungsvollen Augen von mir auf die junge Lehrerin, die sich als Miss Schmidt vorstellte. Selbstverständlich wurde auch in der Kadoorie-Schule englisch gesprochen, obwohl fast alle Schüler aus Deutschland oder Österreich kamen. Miss Schmidt wickelte ein frisches Stück Kreide aus, schrieb ihren Namen an die neue Tafel und ließ ihn uns im Chor wiederholen.
    Als ob irgendjemand in diesem Raum nicht wusste, wie man den Namen Schmidt aussprach! Aber mir war nicht nach Lachen zumute, so wenig freute ich mich auf diese Schule. Ich hatte nicht einmal Erwartungen daran. Alles was ich hatte, war keine Lust mehr auf Neuanfänge.
    Doch Elwi dachte nicht daran, das Neue unerforscht zu lassen, und schien überdies automatisch davon auszugehen, dass wir ab sofort jeden Schritt gemeinsam taten. Da ich nicht gewohnt war, Freundschaften zu schließen, hatte ich auch keine Ahnung, wie ich mich wehren sollte. In der Pause zerrte Elwi mich mit, öffnete jede Tür und guckte ungeniert dahinter. Die jüdische Gemeinde hatte unter Mithilfe zahlreicher Flüchtlinge ein Trümmergrundstück in der Kinchow Road wieder aufgebaut. Hinter dem mehrstöckigen Schulhaus lag ein Rasen, an dessen Enden Fußballtore standen, und trotz der winterlichen Kälte schlossen sich sofort zwei Mannschaften zusammen.
    Auch Kurt und Dieter spielten mit. Überhaupt war nicht zu übersehen, wie viele Schüler ich bereits aus der Jewish School kannte. Alle fingen an diesem Tag neu an, nicht nur ich, und jeder Einzelne außer mir schien wild entschlossen, es sich hier gut gehen zu lassen.
    Meine innere Mauer bröckelte, noch während wir herumschlenderten. Was sprach dagegen, der Kadoorie-Schule nicht wenigstens eine Chance zu geben? Ich kam sowieso nicht aus der Sache heraus, und immerhin gehörte zu den dicken Pluspunkten, dass es nachmittags keinen Unterricht gab. Man konnte sich für verschiedene Freizeitaktivitäten eintragen, doch die Anwesenheitspflicht endete nach dem Mittagessen. Ich würde also genug Zeit haben, meine alten, richtigen Freundschaften zu pflegen!
    Doch als ich mich nach dem Essen davonmachen wollte, hielt Elwi mich fest. »Jetzt musst du erst mit zu mir kommen, und dann bringe ich dich nach Hause und sehe, wo du wohnst.«
    Konnte es sein, dass sie mich als Freundin ausgesucht hatte, weil ich eine von denen war, die andere bestimmen ließ …? Aber meine Neugier überwog, ohnehin hatte ich nichts Besseres vor. Ich war erstaunt, als Elwi das Ward Road-Heim ansteuerte.
    »Seid ihr erst vor Kurzem angekommen?«, fragte ich.
    »Nein, aber meine Eltern haben keine Arbeit und hier im Heim gibt es zwei Mahlzeiten am Tag«, sagte Elwi schulterzuckend.
    Etwas widerstrebend folgte ich ihr in das Gebäude, vorbei an unserem alten Bettnachbarn Herrn Hamburger, der rauchend im Hof stand und tat, als erkenne er mich nicht mehr. Den Mief und Lärm in den Schlafsälen hatte ich ganz vergessen, und die Unmengen staubiger Klamotten, die an Seilen und Haken von der Decke hingen, sodass man sich fühlte wie in einem großen, ungelüfteten Kleiderschrank.
    Herr und Frau Bauer saßen auf ihrem unteren Etagenbett und wirkten eher wie Elwis Großeltern. Ich gab ihnen die Hand, lächelte im matten Licht der Saalglühbirnen in zwei müde, verschattete Gesichter und war froh, als Elwi direkt nach dem Händeschütteln erklärte: »Jetzt hast du alles gesehen, jetzt gehen wir zu dir.«
    Unterwegs registrierte sie zufrieden, dass zwischen ihrem und meinem Zuhause der Weg nur kurz, die Voraussetzung für unsere Freundschaft also perfekt war. Hieß das, sie wollte in Zukunft jeden Tag mitkommen …?
    Nicht, dass ich es nicht verstand – wenn meine Eltern und ich noch immer in einem dieser scheußlichen Heime lebten, würde auch ich alles versuchen, um wenigstens eine Freundin mit richtiger Wohnung zu finden. Aber dass Elwi so vorfreudig neben mir hereilte, schien mir zunehmend weniger an meiner besonderen persönlichen Ausstrahlung zu liegen.
    »Hör mal, Elwi«, sagte ich, »ich habe schon zwei Freundinnen. Eine wohnt im Settlement und die andere in England, aber wenn du willst, können wir Schul freundinnen sein.«
    Elwi blieb stehen. »Heißt das, ich kann nicht mit zu dir nach Hause?«, fragte sie entsetzt.
    »Doch, klar«, beruhigte ich sie rasch. »Aber nicht jeden Tag!«
    »In Ordnung«, erwiderte Elwi sofort.
    Ich

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