Nanking Road
vor der Nase, schrieb sie: »Du solltest diese lustigen Wellblechhütten sehen, die wir jetzt alle im Garten haben! Sie werden in den Boden eingegraben und sehen aus wie Ziegenställe, aber haben vier richtige kleine Etagenbetten. Auf allen Blumenbeeten wächst Gemüse, in allen Fenstern hängen Verdunkelungspappen und kein Kind darf noch ohne Gasmaske auf die Straße. Miss Read (Marge) wird zur Luftschutzhelferin ausgebildet und übt an mir für ihren Erste-Hilfe-Kurs. Die Stimmung im Land ist einfach hervorragend.«
Da Bekka nicht nur ihren Eltern, sondern nun auch ihrem Bruder schreiben musste, war ich froh, dass überhaupt mal wieder ein Brief für mich abgefallen war. Obwohl ich ihre Lage verstand, hatte ich in letzter Zeit ein wenig die Lust am Schreiben verloren – es machte einfach keinen Spaß, wenn man nie Antwort bekam!
Nun machte Bekka es wieder gut, sie legte sogar ein Foto von sich und Betti bei. Aus meiner pummeligen Cousine, der ständig ein Tropfen Rotz an der Nase gehangen hatte, war eine niedliche Siebenjährige mit Zahnlücke geworden, während Bekka in die Kamera blickte wie immer: selbstbewusst und herausfordernd. Über den Schock wegen Thomas’ Internierung war sie schon hinweg gewesen, als mein Trostbrief nach langer Reise endlich bei ihr eingetroffen war, nun war sie offenbar in Kampfstimmung.
Meine Hand, die das Foto hielt, wurde schwer vor Kummer. Wie sehr ich sie vermisste!
Auch Onkel Erik standen Tränen in den Augen, als er mir über die Schulter blickte. Im Gegensatz zu Jakobs Pflegeeltern schrieb Bettis Familie so gut wie nie. Was meine Verwandten über ihre Tochter erfuhren, stand fast ausschließlich in den Briefen von Bekka an ihre Eltern; Passagen, die von Tante Ruth Wort für Wort für Onkel Erik abgeschrieben wurden.
»Ziska, könntest du dir vorstellen, mir das Foto zu leihen?«, fragte er leise.
Mein erster Impuls war, das Bild sofort wegzustecken. Dann fühlte ich, wie meine Wangen ganz heiß wurden.
»Natürlich, Onkel Erik«, sagte ich und gab ihm das Foto, ohne einen letzten Blick darauf zu werfen. Nicht, dass es mir gleich wieder leidgetan hätte.
Ich bewegte mich in Onkel Eriks Nähe wie auf Zehenspitzen, keiner von uns wagte Tante Ruths Brief anzusprechen. Wenn Onkel Erik nicht dabei war, redeten wir von nichts anderem.
»Sie wird schon zur Vernunft kommen. Sie darf nicht in Deutschland bleiben, vor allem jetzt, wo ein Luftkrieg droht.«
»Sie fühlt sich eben sicherer mit Liebichs. Ich kann das ja auch verstehen, aber schon um der Kleinen willen kann sie doch nicht einfach dasitzen und abwarten!«
»Dürfen die Juden in Berlin überhaupt in die Luftschutzkeller?«
Etwa eine Woche später kam Onkel Erik morgens von der Arbeit und verkündete noch in der Tür: »Ich fahre nach Berlin. Ich hole sie.«
Bevor Mamu und ich uns von unserem Schreck erholt hatten, antwortete Papa: »Darüber habe ich auch schon nachgedacht.«
Mamu holte tief Luft. »Seid ihr beide noch …«
»Jeder japanische Frachter«, unterbrach Onkel Erik, ohne auf ihren Protest zu achten, »könnte mich nach Wladiwostok oder Dairen mitnehmen, und von dort nehme ich dieselbe Strecke zurück, die ich gekommen bin. Es ist schon versucht worden.«
»Aber nicht bis Berlin! Über die deutsche Grenze kannst du mit deinem Pass auf keinen Fall.«
»Dann treffe ich Ruth eben in Moskau. Von Berlin geht ein Schlafwagen direkt dorthin, das müsste sie alleine schaffen!«
»Schreib ihr«, sagte Papa. »Versuch’s.«
Onkel Erik nahm Schreibblock und Stift aus dem Schrank und verzog sich aufs Dach. Kaum war er draußen, zischte Mamu: »Franz, wie kannst du ihn auch noch unterstützen?«
Papa sah sie traurig an. »Es wird sowieso nichts daraus«, sagte er. »Nie und nimmer macht deine Schwester bei diesem verrückten Plan mit. Aber wenn wir uns dagegen stellen, zieht Erik ihn erst recht durch, und zwar ohne uns.«
»Das ist wahr«, murmelte Mamu und sie sahen sich bedrückt an.
»Wenn jemand so etwas schon versucht hat«, sagte ich, »heißt das, es hat nicht geklappt?«
Niemand antwortete. »Warum eigentlich nicht?«, fragte ich. »Es hört sich ganz einfach an.«
»Ziska, niemand von uns kann einfach aus- und wieder einreisen«, belehrte mich Papa in einem Ton, der sich weitere Fragen verbat.
»Woher willst du das wissen?«, ließ ich nicht locker.
Meine Eltern taten, als hätte ich nichts gesagt, sie hielten mich aber auch nicht auf, als ich zu Onkel Erik aufs Dach hinaufstieg. Er saß unter
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