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Nanking Road

Nanking Road

Titel: Nanking Road Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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stand kurz davor, ihr die Hand zu reichen, so erfreut war ich über den Erfolg meiner eigenen Diplomatie. Eine weitere Freundin brauchte ich zwar nicht, aber dank Elwi würde ich in der neuen Schule jetzt wenigstens nicht allein herumstehen müssen.
    Elwi lächelte, als wollte sie sagen: Wir werden ja sehen.
    »Das ging ja schnell«, meinte Papa anerkennend, als ich ihn mit Elwi bekannt machte, und stellte die üblichen Fragen über ihre Familie, während ich uns Tee kochte. Ich hätte Elwi gern das Dach gezeigt, doch es war zu kalt, um sich länger dort aufzuhalten, und ohnehin schien sie bereits beeindruckt genug davon, dass meine Eltern und mein Onkel alle drei Arbeit hatten. Am besten, man führte nicht alles auf einmal vor.
    Um unser Wohlergehen ein wenig zu relativieren, erzählte ich Elwi beim Teetrinken, dass mein Vater unbedingt zurück nach Deutschland wollte, und wurde mit einem mitfühlenden Blick belohnt. Elwi und ihre Eltern wollten nach Australien, ein Ziel, auf das immer mehr Flüchtlinge umschwenkten. Die Enttäuschung, dass die Vereinigten Staaten nicht in den Krieg eingriffen, war groß. Australien hingegen hatte von Anfang an an der Seite Englands – an unserer Seite – gestanden.
    »Wie lange es wohl noch dauert?«, überlegte ich.
    »Entweder sind wir dann schon erwachsen«, meinte Elwi, »oder es geht viel schneller.«
    Wir mussten lachen. Man wusste nichts, so viel stand fest – weder, wer wann den Krieg gewinnen würde, noch, ob Elwi und ich für kurze oder längere Zeit Schulfreundinnen sein würden. Gewiss war nur, dass wir alle warteten, dass wir uns irgendwann trennen würden, und dass sich alles, was heute war, jederzeit wieder ändern konnte. Es war, als radierte und schriebe man ständig an den Namen und Orten seines persönlichen Survival Plans herum, so wie damals an der Karte in Bekkas Schuh.
    Im Sommer 1940 stand Mischa Konitzer bereits nicht mehr auf meinem Plan, dafür – seit nunmehr acht Monaten – der Name Elwi. Kurt und die meisten anderen aus meiner alten Schulweggemeinschaft konnte ich ebenfalls streichen; ich sah sie im Kreis ihrer neuen Klassenkameraden, aber mehr als ein Nicken hatten wir bald nicht mehr füreinander übrig.
    Es blieb die wunderbare Judith, zu meiner großen Freude, doch ganz oben stand meine Familie: Mamu, Papa und Onkel Erik. Mit dickem Filzstift, nicht auszuradieren. Ich rechnete nicht damit, einen dieser Namen zu verlieren.
    Wenn meine Eltern Onkel Erik je um sein angenehmes Leben in Shanghai beneidet hatten, dann war es damit seit dem Kriegseintritt Italiens vorbei.
    »Schön und gut, dass ihr das Geld für die Reise jetzt zusammen habt, aber du erwartest doch nicht, dass die Kleine und ich durch Russland fahren?«, schrieb Tante Ruth. »Russland ist mit Hitler verbündet! Willst du riskieren, dass sie uns aus dem Zug holen? Am besten, wir warten ab und bleiben erst einmal, wo wir sind.«
    Meine Mutter ging an die Decke wie eine Rakete. »Das ist wieder mal typisch Ruth!«, platzte es aus ihr heraus. »Überschüttet uns mit Vorwürfen, seit wir in Berlin in den Zug gestiegen sind, und kaum soll sie sich selbst bewegen, macht sie einen Rückzieher!«
    Onkel Erik faltete Tante Ruths Brief wortlos zusammen und ging hinaus, zweifellos in Richtung Café Piefke, wo sich immer jemand zum Beratschlagen fand.
    Mamu standen Tränen in den Augen. »Ich weiß doch auch nicht, was jetzt das Beste wäre. Vielleicht hat Ruth ja Recht. Aber hätte sie es nicht anders ausdrücken können?«
    Es gab Kinder in meiner Klasse, die keinerlei Verwandte und Freunde mehr in Deutschland hatten, die weder wussten noch sich dafür interessierten, was in diesem Sommer in Europa vor sich ging. Ihre Eltern hörten keine Nachrichten, lasen keine Zeitungen, sie waren zweifellos die Glücklicheren unter uns. Meine Familie stand immer noch mit einem Fuß im Land des Fü, ob wir wollten oder nicht, und nach Tagen wie diesem wog alles Schlechte, was wir aus Europa erfuhren, um ein Vielfaches schwerer.
    Auch um England musste man sich jetzt Sorgen machen. Die Deutschen hatten Jersey, Guernsey und Alderney, die Kanalinseln vor der britischen Küste, besetzt und man fürchtete, dass der Fü eine Seeblockade plante, um England auszuhungern. Die meisten englischen Stadtkinder waren bei Kriegsausbruch aufs Land evakuiert worden, doch sowohl Bekka als auch meine Cousine Betti waren noch in ihren Pflegefamilien.
    Bekka schien geradezu belebt von der Gefahr. Deutsche Kanonen schon fast

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