Nanking Road
anders«, murmelte ich und die Augen meiner Mutter bohrten Löcher in meine Stirn. »Ich glaube, ich habe gefragt«, gestand ich.
»Ziska«, flüsterte sie, »schämst du dich nicht?«
»Doch«, sagte ich und hob die Stimme. »Für die stinkende Salbe, mit der ich mich dauernd einschmieren muss!«
Meine Mutter schob ihren Teller weg. »Jetzt hört mal zu, ihr zwei«, begann Papa.
Weiter kam er nicht. »Stehe ich mir dafür jeden Tag die Beine in den Bauch?«, schrie Mamu. »Wisst ihr eigentlich, wie mein Rücken wehtut? Wie meine Hände aussehen, ist das mal einem von euch aufgefallen? Tag für Tag für Tag rackere ich mich ab, damit wir einen Rest von Würde bewahren, und was macht mein Fräulein Tochter? Bettelt bei fremden Leuten, sich waschen zu dürfen!«
»Na und? Papa tut auch der Rücken weh!«, schrie ich zurück.
Worauf meine Mutter vollends die Fassung verlor und brüllte: »Von früh bis spät stecke ich in einem Spülbecken! Türme von dreckigem Geschirr, die sie neben mir stapeln, bis mir schwindlig wird, Frechheiten und dumme Sprüche, und wenn man mal verschnaufen will, heißt es: Sie stehen herum, Frau Mangold, und der Boden ist noch nicht gewischt!«
Papa streckte beide Arme nach uns aus, als befürchtete er, dass wir aufeinander losgehen könnten.
»Wir müssen alle unseren Anteil leisten. Ich komme aus diesem Kabuff gar nicht erst heraus. Glaubst du etwa, das ist schön?«
»Nein, aber ihr seid wenigstens zusammen«, erwiderte Mamu und begann zu weinen. »Ich bin ja nicht einmal mehr Teil dieser Familie!«
Papa ging um den Tisch herum, um Mamu in den Arm zu nehmen. Ich saß dabei, betreten und erschrocken und mit einem Rest von Wut, den ich auf keinen Fall aufgeben wollte, weil ich sonst auch angefangen hätte zu heulen.
»Du bist der wichtigste Teil der Familie«, schmeichelte Papa. »Das musst du doch wissen.«
Mamu schniefte und schob ihn weg. In Berlin hatte sie nie geheult und wenn es noch so dick für uns gekommen war, aber allmählich hatte sie eine gewisse Übung.
»Eins kann ich euch sagen«, stieß sie hervor. »Gewöhnt euch besser daran, dass ich wieder da bin. Ich habe nämlich im Krankenhaus gekündigt.«
Wir sahen sie groß an. »Italien ist jetzt mit Deutschland verbündet«, sagte Mamu.
»Ja, das wissen wir schon, aber warum …«
»Die halbe Belegschaft des General Hospitals besteht aus Anhängern Mussolinis. Ihr hättet den Jubel hören sollen, der da heute ausgebrochen ist. Ich bin nicht nach Shanghai gegangen, um mir wieder Sieg Heil! anhören zu müssen!«
»Das hast du richtig gemacht«, erwiderte Papa, obwohl er noch eine Spur blasser geworden war bei ihren Worten. »Wir finden etwas Besseres für dich.«
»Aber ohne Wasser«, sagte Mamu, und die beiden sahen sich an und mussten lachen. Plötzlich war ich es, die sich fühlte, als würde sie nicht mehr gebraucht.
»Ich muss Hausaufgaben machen«, erklärte ich, obwohl es gar nicht stimmte, und verzog mich in meine Kammer, wo ich eine Weile am Fenster stand und das neue Café Piefke beobachtete. Ich sah Fränkels hinüberschlendern und auch einige andere Nachbarn. Österreicher waren nicht darunter.
Wie dumm, dachte ich mürrisch, dass alle so taten, als spielte es am Ende der Welt noch eine Rolle, woher wir gekommen waren! Wir saßen alle in derselben Patsche, und dennoch misstrauten sich Deutschstämmige und Österreicher, wollten Orthodoxe nichts mit Juden zu tun haben, die nicht religiös waren, und auch die russischen und polnischen Einwanderer blieben unter sich und weigerten sich, etwas anderes zu sprechen als das Jiddisch ihrer alten Schtetl . Selbst in der Flüchtlingsschule standen wir in den Pausen in getrennten Grüppchen, als gehörten wir immer noch zu den Ländern, die uns gar nicht haben wollten.
Am liebsten hätte ich Onkel Victor dazu zur Rede gestellt. Unsere Freundschaft zu Konitzers war eingeschlafen, seit ich nicht mehr mit Mischa zur Schule ging, und ohne sie zu vermissen, dachte ich dennoch ab und zu an die drei. Ich hätte gar nichts dagegen gehabt, Mischa wie Judith noch hin und wieder zu treffen, aber keiner von uns hatte den Vorschlag gemacht, als wir uns am letzten Schultag an der Tramhaltestelle verabschiedet hatten.
»Na dann schöne Winterferien und viel Spaß in der neuen Schule!«
»Dir auch – bis bald?«
Ich hatte die letzte Silbe extra ein wenig gehoben, sodass man meine Antwort als Frage verstehen konnte, aber Mischa hatte es entweder nicht kapiert oder er und
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