Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Nanking Road

Nanking Road

Titel: Nanking Road Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne C. Voorhoeve
Vom Netzwerk:
seine Eltern hatten die Hoffnung für mich jetzt ebenfalls aufgegeben.
    Vielleicht wollte er aber auch nur deshalb nichts mehr mit mir zu tun haben, weil ich ihn daran erinnerte, dass keiner seiner drei Freunde es nach England geschafft hatte. Umgekehrt wäre es bestimmt so gewesen – wenn seine Kandidaten einen Platz auf dem Kindertransport bekommen hätten und Bekka nicht, hätte ich Mischa nie verziehen. Obwohl doch niemand besser verstand als ich, warum er sich auf Mr Tatlers Liste gedrängt hatte.
    Ich fühlte etwas wie Ungeduld, als ich an Mischa dachte. Mit ihm war es einfach zu schwierig gewesen – von unseren eigenen Heimlichkeiten bis hin zur komplizierten Beziehung unserer Eltern. Gut, dass es vorbei war! Ich wusste gar nicht, warum ich an diesem Abend überhaupt an Mischa denken musste, während ich am Fenster meiner Kammer stand und mich ausgeschlossen fühlte.
    Wenige Tage später marschierten deutsche Soldaten im Triumph über die Champs Elysées und auf den Titelseiten der Zeitungen prangte die balkengroße Überschrift: Paris ist gefallen! Frankreich kapitulierte und wurde geteilt – in eine Zone unter deutscher Besatzung und eine zweite unter Verwaltung französischer Faschisten. Deutschland, Russland und Italien nannten sich ab sofort »die Achsenmächte« und der Ehrenname Mussolinis, Il Duce, bedeutete auf Italienisch nichts anderes als »der Führer«.
    Die Zeit der Passagierdampfer war vorbei, das Mittelmeer nicht mehr passierbar. Für Tante Ruth und Evchen blieb jetzt nur noch der lange, gefährliche Landweg über Russland.

17
    Ich muss das am schlechtesten gelaunte Kind bei der Eröffnung der Kadoorie-Schule gewesen sein. Mamu hatte mich an jenem Morgen im November nahezu aus dem Haus schubsen müssen. Die Festreden der Direktorin, des Vertreters der jüdischen Gemeinde und des Stifters, Sir Horace Kadoorie, hatte ich nur mit gereiztem Kribbeln in Lippen und Fingerspitzen überstanden, und bei der feierlichen Hatikva pressten sich meine Zähne entschlossen aufeinander. Die Hatikva gehörte zur Jewish School, nur dort wollte ich sie singen!
    Als wir in Klassen eingeteilt und mit Namen aufgerufen wurden, hingen meine Mundwinkel herab, als hätte ich zu beiden Seiten Gewichte eingeklemmt. Aber das schien nicht jedem aufzufallen. Mein Hinterteil hatte den neuen Stuhl im Klassenzimmer noch nicht einmal angewärmt, als sich jemand mit einem Plumps neben mich fallen ließ, und unter einem so strengen Scheitel, dass er der Besitzerin die Augenwinkel nach oben zog, sah mich ein breites Gesicht eifrig an. »Wollen wir Freundinnen sein?«, fragte das Mädchen atemlos, als habe es gerade ein Rennen um den Platz neben mir gewonnen.
    »Wir kennen uns doch gar nicht«, entgegnete ich verdattert.
    »Elvi Bauer aus Köln.« Sie schüttelte mir die Hand, es fühlte sich an, als wollte sie etwas aus mir herauspumpen. »Elvi kommt von Elvira, aber dafür kann ich nichts. Meine Mutter heißt auch so, genau wie meine Großmutter und Urgroßmutter, doch meine Tochter wird die Tradition brechen, das schwöre ich dir!«
    Erwartungsvoll sah sie mich an. Ich öffnete den Mund: »Ziska Mangold, Berlin-Neukölln.«
    »Neu-Köln!«, schrie sie und warf sich zurück, dass die Stuhllehne nur so krachte. »Dann haben wir beide ja schon etwas gemeinsam!«
    Mein erster Impuls war, so dicht wie möglich an die äußerste Tischkante zu rücken. Dann dachte ich: Wieso eigentlich …?, und machte mir klar, was soeben passiert war. Zum ersten Mal hatte sich jemand – ganz ohne mein Zutun – offenbar mich als Freundin ausgesucht! Hatte irgendetwas Besonderes in mir gesehen, das anderen bisher entgangen sein musste.
    Ich schielte zu meiner Tischnachbarin hinüber. Auf den zweiten Blick wirkte sie nicht halb so kräftig und furchteinflößend, obwohl sie ziemlich raumgreifend über dem gemeinsamen Pult hing. Sie hatte ein Schreibheft aus dem Ranzen genommen und es vor sich gelegt, um es zu beschriften, nun zog sie die Stirn in tiefe Falten und kaute an ihrem Bleistift. Wie wir alle hatte sie ihr Heft aus losen Bögen Papier gebastelt, die sie in der Mitte gefaltet und mit Zwirn zusammengenäht hatte. Der Griff des Bleistifts war mit tiefen Bissen übersät, als hätte er vorher einem Biber gehört.
    »Hier kennt mich ja niemand«, überlegte Elvira. »Ich glaube, ich schreibe mich ab heute mit w , was meinst du?«
    Sie wartete meine Antwort nicht ab, sondern schrieb in entschlossenen Lettern den Namen ELWI BAUER auf ihr Heft.

Weitere Kostenlose Bücher