Nanking Road
hatte von ganzen Stadtteilen in Polen, Lettland und Litauen gehört, die bereits von deutschen Juden bewohnt waren; Stadtteile, die sich genau in dem Gebiet befanden, aus dem die letzte Nachricht von Onkel Erik gekommen war!
»Es würde mich nicht wundern, wenn er mit seiner Familie dort wäre«, meinte sie. »Und dann sollte es ihm möglich sein, euch bald eine Nachricht übers Rote Kreuz zu schicken!«
Mir wurde fast schwindlig vor Hoffnung. Am Abend machte Papa sie wieder zunichte.
»Stadtteile …? Das richtige Wort dafür ist Ghetto, und glaub mir, ein Ghetto hat noch nie zu etwas anderem geführt als Mord und Totschlag!«
Mein Vater war entsetzt, er konnte sich gar nicht beruhigen über Frau Keplers Unwissenheit, und ich schämte mich zutiefst, dass ich mich hatte anstecken lassen.
»Diese neuen jüdischen Stadtteile im Osten …«, begann ich zögernd, als ich sie das nächste Mal sah.
»Ja, was ist mit den Stadtteilen?«, fragte Frau Kepler zerstreut und fuhr fort, Kataloge aus den Regalen in Kartons zu räumen. Ich hatte schon damit gerechnet, dass sie das Reisebüro aufgeben würde, und hätte gern gefragt, wollte aber nicht in offenen Wunden rühren.
»Mein Vater sagt, diese sogenannten Stadtteile seien nichts anderes als Ghettos.«
»So? Ach«, sagte Frau Kepler, unterbrach ihre Arbeit aber nicht und fügte nach kurzem Nachdenken hinzu: »Entschuldige, aber ist das nicht auch nur ein Wort …? Wo ist denn der Unterschied? Es sind Stadtteile, wo nur Juden leben. Sie haben dort Wohnungen und Geschäfte und können unbehelligt unter sich bleiben. Das muss man doch nicht gleich mit einem negativen Wort belegen.«
»Ghetto heißt, dass sie nicht herausdürfen«, erklärte ich und legte einen Katalog, den ich früher besonders gern in die Hand genommen hatte, in einen Karton. Auf der Vorderseite war, unter Knicken vom jahrelangen Gebrauch, der Grand Canyon zu sehen.
»Wenn es ein kleines Ghetto ist, ist das natürlich hart«, räumte Frau Kepler ein. »Aber vielleicht ist es so groß, dass die Leute gar nicht heraus müssen . Der Osten ist riesig. Jede Menge Platz.«
Sie nickte ermutigend in Richtung Weltkarte. Zögernd tat ich ihr den Gefallen und nickte zurück. Ich wollte nur allzu gerne glauben, dass Onkel Erik zumindest irgendwo war und nicht einfach verschwunden.
Eine Woche später war die Weltkarte das Letzte, was vom Reisebüro übrig blieb. In den Regalen lagen Stifte, Papier und gebundene Hefte, ein Mädchen trat auf mich zu, beguckte meine abgetragenen Kleider und fragte gedehnt: »Willst du irgendwas …?«
Sie war etwa fünfzehn, kaum älter als ich. »Ist Frau Kepler nicht da?«, erwiderte ich verstört.
Der Vorhang wurde augenblicklich zurückgeschoben. »Ach, Ziska, du bist es!«, sagte sie liebenswürdig. »Sieh dich ruhig um. Das ist Regine, sie hilft mir nachmittags.«
Regine musterte mich kühl und ich versuchte mir nicht anmerken zu lassen, wie schockiert ich war. Frau Kepler hatte mir gegenüber nicht einmal erwähnt, dass sie eine Aushilfe für ihren Laden suchte. Sie hatte lieber ein fremdes Mädchen eingestellt, ein deutsches Mädchen. Dabei waren sie und ich sogar Berliner.
»Weißt du was?«, sagte sie eine Spur zu fröhlich. »Ich schenke dir ein Heft. Oder hättest du am liebsten einen schönen Bleistift? Ein Lineal, einen Zirkel?«
Am liebsten hätte ich mich auf der Stelle umgedreht und den Laden verlassen, aber die Blöße wollte ich mir unter den Augen der eingebildeten Regine denn doch nicht geben. Also spielte ich mit und suchte, umständlich wie eine richtige Kundin, einen schönen weichen Bleistift aus. Elwi würde sich freuen.
»Na dann bis zum nächsten Mal«, meinte Frau Kepler beinahe herzlich.
Ganz bestimmt nicht, dachte ich lächelnd.
Ich lächelte noch, als ich mich in der Tür umdrehte, meine Hand hob und winkte. Aber dass wir uns erst Jahre später wiedersahen, lag dann doch nicht an Regine.
20
Die Ersten kamen gleich im Februar. Die Klügsten, die Entschlossensten, diejenigen, die noch Kraft hatten, die Dinge, wenn sie schon ein weiteres Mal von vorn anfangen mussten, wenigstens selbst in die Hand zu nehmen. Viele von denen, die später kamen, hatten nichts geregelt, waren viel zu verzweifelt, besaßen allenfalls einen Zettel mit einer Adresse, die sie im Gewirr der kleinen Gassen in Hongkou ohne Hilfe nicht einmal gefunden hätten. Hinter ihnen wurden die Sperren geschlossen und an den wenigen Ausgängen des Ghettos Hongkou postierte sich der
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