Nanking Road
erhaschen, aber viel zu sehen gab es dort nicht. Die kleinen Kanonenboote hatten sich der Übermacht der Japaner bereits ergeben. Die britische Peterel war abgebrannt, die amerikanische Wake geentert, die Besatzungen in Gefangenschaft.
Auf der Wake wehte jetzt die japanische Fahne. Nach der Schule gingen Elwi und ich zum Bund, um uns das traurige Schauspiel anzusehen. Noch immer lag Qualm über dem Fluss, in dem gespenstisch die Segel der Sampans dahinglitten. Viele Flussbewohner hatten fluchtartig das Weite gesucht, kehrten aber bereits an ihre Anlegeplätze zurück, als sei nichts weiter geschehen, während sich auf den Straßen die Leute auf die Schulter klopften.
»Habt ihr gehört …? Amerika ist im Krieg gegen Japan!«
Es war die Botschaft, auf die Menschen in der ganzen Welt seit über zwei Jahren warteten. Die Japaner hatten den amerikanischen Stützpunkt Pearl Harbor auf Hawaii mit einem Großangriff überrascht. Mehrere tausend Männer waren tot, Hunderte Flugzeuge und ein Teil der Pazifikflotte zerstört, und jede Minute erwartete man eine Radioansprache des amerikanischen Präsidenten an sein Volk. Die Radioansprache war noch nicht einmal übertragen worden, dennoch schienen alle schon zu wissen, was sie enthielt: »Die Amerikaner sind im Krieg! Jetzt wird alles gut!«
Beklommen blickte ich in das dreckige Wasser, in dem Schwimmwesten, Kleidungsstücke und verkohlte Planken trieben. Die Flussbewohner paddelten dem Treibgut schon eifrig hinterher, und plötzlich beschlich mich eine Ahnung, dass wir, wenn die Spuren dieses Morgens beseitigt waren, eine andere Stadt vor uns sehen würden als die, an die wir uns in nunmehr drei Jahren gewöhnt hatten.
»Meinst du, die Japaner lassen uns weiter zur Schule gehen?«, fragte Elwi besorgt. »Für uns interessieren sie sich doch gar nicht, oder jetzt vielleicht doch?«
Ich antwortete nicht. Was hätte ich auch sagen sollen? Die Sorge, ob sich all die Verbote, die wir aus Deutschland kannten, nun in Shanghai wiederholen würden, ging ja nicht nur Elwi durch den Kopf.
Im Café Piefke schloss die Tür nicht mehr, so viele Menschen drängten sich im Gastraum. Wir stellten uns auf die Zehenspitzen, um Bruchstücke der Diskussion zu erhaschen. Befand sich Amerika nur im Krieg mit Japan oder auch mit Deutschland? Welche Auswirkungen hatte es für uns, wenn Amerika sich Deutschland gegenüber weiterhin neutral verhielt?
Nach ein paar Minuten hielt ich es nicht mehr aus und sagte: »Komm, lass uns nach Hause gehen.«
Wir würden schon früh genug merken, was aus uns wurde.
Sofort nach Ausbruch des Pazifikkrieges besetzten die Japaner auch den internationalen Sektor. Sie veranstalteten eine große Parade mit Panzerkolonnen und bewaffneten Soldaten, die Fahnen mit der aufgehenden roten Sonne stemmten. Als die Parade vorüber war, hing an Plakatwänden und Pfosten die japanische Kriegserklärung an die Vereinigten Staaten und Großbritannien.
Schon wenige Tage später machten wir Bekanntschaft mit der ersten Änderung: Ab sofort mussten auch wir Flüchtlinge vor den japanischen Soldaten auf der Garden Bridge buckeln und unsere Papiere vorzeigen. Das britische Postenhäuschen war verwaist, niemand mehr da, der für uns hätte eintreten können. An den Schulen wurde Japanisch als Pflichtfach eingeführt. Wir Schüler betrachteten es als unsere Pflicht, uns dabei nicht anzustrengen.
Unter den britischen, französischen und amerikanischen Zivilisten, die kurz darauf mit roten Armbinden, die sie als Angehörige der Feindmächte identifizierten, durch die Stadt getrieben wurden, erkannte ich den wie erstarrten Mr Tatler. Soldaten versuchten die Passanten vom Straßenrand zurückzudrängen; dass viele Zuschauer Tränen in den Augen hatten und ihre Hüte abnahmen zum Zeichen des Respekts, versetzte sie in Wut.
Später hörten wir, dass die Angehörigen der Feindmächte in einem Lager im Hinterland interniert worden waren. Es hätte sogar die Sassoons und Kadoories getroffen, die britische Pässe besaßen, sich aber rechtzeitig hatten absetzen können. Fabriken, Banken, Hotels und Bürohäuser der Ausländer, ihre Villen und privaten Kunstsammlungen wurden unverzüglich von den Japanern beschlagnahmt.
Danach stand die jüdische Gemeinde mit leeren Händen da. Wie sollte sie ohne Unterstützung der führenden Familien, die geflohen waren, und ohne die Spenden des Joint in Amerika, der jeglichen Kontakt eingestellt hatte, Tausende Flüchtlinge versorgen? Ab sofort gab es
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