Nanking Road
mussten, waren die drei schließlich noch nicht gewöhnt.
Seit unserem unerfreulichen ersten Wiedersehen waren wir uns bereits mehrere Male begegnet und ich war froh, dass er zu uns gekommen war, anstatt ziellos in Hongkou herumzuirren. Vielleicht hoffte er dasselbe wie ich: dass es bald wieder völlig normal sein würde, zusammen Tee zu trinken und zu reden.
Ich warf ihm einen raschen Blick zu. Mischa war groß und dünn geworden, trug eine Nickelbrille und sah mit seinem in die Stirn fallenden Haar und dem karierten Pullunder über dem Hemd aus, wie ich mir einen sehr jungen Studenten vorstellte.
»Ziska, was ist vorgefallen zwischen dir und Judith?«, fragte er plötzlich.
Ich kratzte mich unbehaglich am Bein. »Was hat sie dir denn gesagt?«
»Dass man dir nicht trauen kann.«
»Das ist nicht wahr.« Ich musste schlucken. »Sie hat Onkel Erik und mich ins Deutsche Reisebüro gehen sehen, das ist alles. Im Gegensatz zu ihr weißt du ja, warum wir dort waren.«
»Judith hat durchs Schaufenster gesehen, wie du deinen Onkel vorgestellt hast«, bemerkte Mischa. »Für sie sah es aus, als wäre die Frau da drinnen eine gute alte Bekannte.«
»Ach! Und was sagt sie zu Rainer?«, fuhr ich ihn an.
Mischa schüttelte den Kopf. »Ziska, ich bin der Letzte, der dir Vorwürfe machen würde. Ich treffe Rainer immer noch, niemand weiß davon außer dir! Ich will doch nur wissen …«
Er brach ab. »Was?«, fragte ich unfreundlich.
»Ob wir uns noch vertrauen«, sagte Mischa.
Unter dem Schweißtuch um seinen Hals stieg frische Röte auf. Ich verspürte ein Kitzeln im Hals, irgendwo zwischen Erleichterung und Rührung. »Das müssen wir, du Blödmann! Wir zwei haben die unmöglichsten Geheimnisse, ist dir das nicht klar?«
Mischa musste grinsen. Und plötzlich war alles wie früher.
»Dann verrate ich dir gleich noch etwas«, beschloss er. »Dieses Ghetto … wie es aussieht, werden wir nicht lange bleiben.«
»Aha, und woher willst du das wissen?«
»Der Krieg hat sich gewendet. Viele Städte in Deutschland sind nur noch ein Trümmerfeld. Die Ostfront bricht von allen Seiten ein, seit die 6. Armee in Stalingrad kapituliert hat. Rommels gefeiertes Afrikakorps steht vor der Niederlage. Und seit die Japaner Guadalcanal verloren haben, kennen die Alliierten deren große Schwachstelle: die Versorgung. Die japanischen Soldaten haben im Dschungel praktisch Erde gefressen und sind elend daran krepiert.«
Mir stand der Mund offen. »Rainer hat eine Kurzwelle«, erklärte Mischa. »Er empfängt BBC , sowohl die englischen als auch die Nachrichten für deutsche Emigranten. Mit ein bisschen Glück sind unsere Tage hier gezählt, Ziska.«
Er beugte sich vor. »Im Ghetto von Warschau erheben sich die Juden zu einem gewaltigen Aufstand«, flüsterte er. »Ich weiß nicht, was die Japaner mit uns vorhaben, aber wer sagt, dass wir uns alles gefallen lassen müssen? Auch in Hongkou gibt es einen jüdischen Untergrund.«
»Davon habe ich gehört«, fand ich meine Sprache wieder. »Der jüdische Untergrund in Hongkou besitzt ein illegales Funkgerät und ungefähr zwei Pistolen.«
»Und Kontakte nach draußen«, sagte Mischa bedeutungsvoll.
»Rainer …?«, fragte ich zweifelnd.
Mischa prustete vor Lachen. Vom gegenüberliegenden Dach lachten ein paar Chinesen mit und winkten gutmütig zu uns hinüber.
»Von Rainer weiß ich, dass die meisten Deutschen genug haben vom Krieg.« Mischa wurde wieder ernst. »Goebbels kann sie kaum noch bei der Stange halten, deshalb greifen die Nazis jetzt auf Einschüchterung zurück. In München haben sie Studenten hingerichtet, nur weil die ein paar kritische Flugblätter verteilt haben. Wer am Sieg zweifelt, kommt ins KZ . Ziska, wer zu solchen Maßnahmen gegen die eigene Bevölkerung greifen muss, der kann nur mit dem Rücken zur Wand stehen.«
»Moment … du hast Mitleid mit den Deutschen?«
»Nein. Es gibt einige, die schon immer gegen Hitler waren, aber die anderen bekommen nur, was sie verdienen«, sagte Mischa hart.
Unten auf der Straße klapperten noch immer Rikschas und Handwagen, dazwischen mischten sich die Rufe der Garköche, Wasserverkäufer und Zimmervermittler. Viele Verzweifelte waren selbst jetzt noch auf der Suche, hatten über gerissene Makler ihre Wohnung mit Japanern getauscht, die ihnen bei der Übergabe einen Zettel mit einer Adresse in die Hand gedrückt hatten. Nach der Ankunft in Hongkou mussten sie feststellen, dass es diese Adresse gar nicht gab oder dass sie
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