Nanking Road
kam, würden wir nur die Türrahmen haben, um uns zu schützen.
Man konnte sich ausrechnen, wie viele aus unserer Klasse unter unseren einzigen Türrahmen passen würden. Im Notfall, so erfuhren wir, sollten wir also einfach in Luftschutzgräben und -löcher springen. Tatsächlich wurden in den Straßen welche ausgehoben, in die die Anwohner ab dem nächsten Tag erfreut ihren Müll warfen.
Die Kabarettisten jubelten. Jede neue Maßnahme der Japaner war ihnen willkommen. Wenn es nichts zu essen gab, sollten die Leute wenigstens lachen! Sie erlebten eine wahre Blütezeit in diesem Jahr, in dem niemand wusste, was als Nächstes auf uns zukommen würde. Wie zuvor im Settlement, entstanden auch in Hongkou Kleinkunstbühnen und Varietés, spielten Flüchtlingstheater Klassiker und selbst verfasste Stücke. Es gab so viele Veranstaltungen, dass sie zahlreiche Zeitungen in der Stadt am Leben hielten. Über die Ereignisse in Europa fand man in der Shanghaier Presse so gut wie nichts, da sie wie die lokalen Radiosender einer strengen Zensur unterlag.
Die Zeitung, die unsere Lehrerin Miss Schmidt gern im Unterricht benutzte, hieß Gelbe Post und wollte ihre Leser mit China, seiner Geschichte und Kultur vertraut machen. Überrascht lasen wir, dass viele chinesische Bewohner Hongkous selbst erst vor zehn Jahren als Flüchtlinge gekommen waren. Nach der Bombardierung der chinesischen Altstadt, die hinter dem französischen Sektor lag, waren eine Viertelmillion Menschen obdachlos in Hongkou gestrandet, das bis dahin noch ein ganz normaler Teil des internationalen Sektors gewesen war!
Die Klasse brach in helle Empörung aus, als wir die ganze Wahrheit über Hongkou erfuhren; mit einem Mal sah man die vielen Bettler unseres Bezirks mit ganz anderen Augen. Aber ausgerechnet die Gelbe Post verkaufte sich schlecht und dem Verleger ging bald das Geld aus. Die meisten Flüchtlinge hatten kein Interesse an China; ihr einziges Interesse war, China zu überleben und so schnell wie möglich von hier zu verschwinden.
Papa saß weiter über seiner Nähmaschine, ich trug seine Aufträge aus, Mamu arbeitete in gleich mehreren Jobs im ehemaligen Settlement. Für eine Bäckerei radelte sie Kuchen durch die Stadt, den sie hauptsächlich an wohlhabende Deutsche auszuliefern hatte, sie putzte Zimmer in einem der großen Hotels am Bund und für kurze Zeit führte sie sogar vier Hunde spazieren, die einer reichen Japanerin gehörten. Es war eine unerwartet gefährliche Arbeit, denn hungrige Chinesen warfen begehrliche Blicke auf die Pudel, folgten meiner Mutter sogar über längere Strecken und sie verlor fast die Nerven bei der Vorstellung, was passieren würde, wenn man ihr die Hunde stahl. Nach einigen Nachmittagen erfand sie irgendeine Ausrede, um den Job wieder loszuwerden, ohne die Japanerin zu verärgern.
Unterdessen wurde auch den Letzten klar, dass wir alle noch sehr lange in Shanghai bleiben würden. Die Hoffnung, dass die Vereinigten Staaten uns rasch befreiten, erfüllte sich nicht. Der Angriff auf Pearl Harbor war nur der Auftakt eines japanischen Blitzkriegs in Südostasien gewesen; wie eine Dampfwalze pflügten die kaiserlichen Truppen binnen weniger Wochen über Britisch-Malaya hinweg, eroberten nach Singapur auch die Philippinen, Birma und Hongkong. Während die Alliierten mit dem Großteil ihrer Truppen in Europa standen und hauptsächlich auf Soldaten ihrer Kolonien zurückgreifen mussten, erwiesen sich die Japaner als Meister des Dschungelkrieges und gingen mit einer einzigen Ausnahme auch aus den See- und Luftschlachten als Sieger hervor.
Dass viele der Kämpfe so zauberhafte Namen trugen, machte sie in meinen Augen nur noch schlimmer, hieß doch »Die Schlacht in der Korallensee« nichts anderes, als dass auch die idyllischsten Schauplätze der Welt nun von Tod und Zerstörung heimgesucht wurden. Mittlerweile beherrschte Japan den Zentralpazifik mitsamt seinen wichtigen Schifffahrtsrouten und hatte vor der australischen Küste eine eigene große Militärbasis errichtet.
All dies spielte sich in unmittelbarer Nähe zu uns ab, dennoch war die einzige Deutsche, die ich in Shanghai kannte, der Überzeugung, wir Flüchtlinge hätten nichts zu befürchten. Mehr noch: Auch für die Juden in Deutschland sei endlich eine Lösung gefunden! Sie würden, wie Frau Kepler über drei Ecken erfahren hatte, in die besetzten Länder im Osten umgesiedelt, worunter man sich die neueste Version von Madagaskar vorzustellen hatte.
Frau Kepler
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