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Nanking Road

Nanking Road

Titel: Nanking Road Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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nur noch eine einzige Heimspeisung pro Tag und die etwas Wohlhabenderen unter uns wurden aufgerufen, Patenschaften für bedürftige Kinder zu übernehmen. Elwi aß bald regelmäßig bei uns zu Abend, obwohl auch wir immer weniger einkaufen konnten. Lebensmittel und Gebrauchsgüter wurden von Tag zu Tag teurer, man sprach von einer galoppierenden Inflation, und schneller, als wir uns hätten träumen lassen, näherten wir uns wieder der Armut unserer ersten Zeit.
    Das Nächste, was wir erfuhren, war, dass wir keine Deutschen mehr waren.
    Onkel Victors Bart war grau geworden, doch seine Augen blitzten triumphierend. Anscheinend war er aus keinem anderen Grund gekommen, als Papa unter die Nase zu reiben, dass wir nun endlich schriftlich hatten, was Konitzers seit Jahren predigten: Wir Juden waren keine Deutschen! Großzügig ging er darüber hinweg, dass die Entwicklung auch für ihn nicht ohne Folgen blieb, denn dass wir alle für staatenlos erklärt worden waren, machte die Auswanderung nach Amerika oder Australien nur noch schwerer. Für Staatenlose galt eine andere Quote als für deutsche Staatsangehörige; wahrscheinlich brauchte Onkel Victor nun sogar eine neue Nummer und würde sich wieder ganz hinten anstellen müssen.
    Ich konnte ihn nur bewundern für seine Fähigkeit, aus jeder Veränderung das Beste herauszuholen. Anstatt zu verzweifeln, war er nun lieber staatenlos als deutsch, und dies sowieso und immer schon und mit großer Überzeugung. Meine Eltern hingegen waren nicht einmal über den Schock hinweg. Mein Vater wegen des Inhalts der Bekanntmachung, meine Mutter, weil es ihr schier das Herz zerrissen hatte, wie Papa minutenlang auf den Aushang gestarrt hatte. Mit hängenden Schultern war er stumm zum Haus zurückgeschlichen, wo er seitdem ein ums andere Mal ungläubig den Kopf schüttelte. Selbst Onkel Victor erkannte, dass dies nicht der passende Zeitpunkt war für Genugtuung.
    Er verabschiedete sich ziemlich schnell, allerdings nicht ohne mir einen Wink zu geben. Ich folgte ihm überrascht. Draußen sagte er: »Du scheinst mir noch die Vernünftigste von euch zu sein. Ich muss leider ein heikles Thema ansprechen.«
    Ich hielt Onkel Victor zugute, dass er wenigstens verlegen herumdruckste. »Herr Simon hat auch schon wegen des Geldes gefragt«, kam ich ihm zuvor. »Die achthundert Dollar bekommen wir von der Schifffahrtsgesellschaft zurück. Es ist jetzt über ein Jahr her und keiner glaubt mehr, dass sie noch kommen.«
    Ein Schluchzen stieg mir in die Kehle, das ich vergebens zu unterdrücken versuchte. Das Letzte, was ich wollte, war vor Onkel Victor zu weinen! Aber dass auch ihm die Tränen in die Augen stiegen, gab mir den Rest.
    Das war die andere Seite von Onkel Victor Konitzer: Er nahm mich ohne Umschweife in den Arm und wir weinten gemeinsam mitten auf der Straße, zwischen Fußgängern und Rikschas und Fahrrädern, die klingelnd um uns herumkurvten.
    Kurz danach beschlagnahmten die Japaner sämtliche Kurzwellenempfänger, um zu verhindern, dass wir ausländische Radiosender hören konnten. Sie hatten erst Manila, dann Singapur angegriffen und weitere Gräueltaten sprachen sich herum. Fast 70000 Menschen starben allein in Singapur, vergewaltigt, erschossen oder lebendig begraben. Dass wegen solcher Nachrichten in Shanghai Unruhe ausbrach, lag nicht im Interesse unserer Besatzer. Von nun an war nur noch die deutsche Wochenschau in den Kinos zu sehen, die die Siege des Fü und seiner Verbündeten bejubelte, und nur linientreue Sender erhielten Lizenzen.
    Aus heiterem Himmel gab es Razzien der Militärpolizei in Privathäusern, und wer mit einem Rundfunkgerät erwischt wurde, das ausländische Sender empfangen konnte, wurde verhaftet und für zwei Wochen in das gefürchtete Gefängnis der Kempetai, des japanischen Geheimdienstes, gesperrt. Das kam einem Todesurteil gleich, denn in den überfüllten Zellen tummelten sich Ratten, die Flecktyphus übertrugen, und viele Inhaftierte starben jämmerlich binnen weniger Tage nach ihrer Entlassung.
    Die Kadoorie-Schule, die mittlerweile in ein neues, größeres Gebäude umgezogen war, veranstaltete die ersten Luftschutzübungen. Jeder von uns kannte die Signale für Voralarm, Alarm und Entwarnung, wir beherrschten die wichtigsten Regeln der Ersten Hilfe und konnten mit Gasmasken umgehen. Was es im Ernstfall nützen würde, wusste allerdings niemand. In der Stadt gab es keine Keller, da sie knapp über dem Meeresspiegel lag, und wenn wirklich ein Angriff

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