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Nanking Road

Nanking Road

Titel: Nanking Road Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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Zimmer. »Sie ist ein großes Mädchen geworden. Wie alt bist du, Ziska?«
    Ich antwortete nicht. »Sie ist vor ein paar Wochen fünfzehn geworden«, sagte Papa.
    »Willst du da draußen anwurzeln?«, raunzte ich Mischa an.
    Er errötete und drückte sich an mir vorbei, ohne mir auch nur die Hand zu geben. Als Onkel Victor vorschlug, einen ersten Erkundungsgang durch unser Viertel zu unternehmen, war mir die Lust schon so gut wie vergangen, und Mischas und Onkel Victors angewiderter Gesichtsausdruck, während ich sie durch die angrenzenden Gassen führte, trug auch nicht dazu bei, meine Stimmung zu heben. Ich wusste, wie ärmlich es im Vergleich zum Settlement »bei uns« aussah, aber das war noch lange kein Grund für ihr geradezu hochnäsiges Getue.
    Konitzers waren nicht die Einzigen, die bereits auf Wohnungssuche gingen. Viele fremde weiße Gesichter mischten sich unter die mir schon bekannten, ließen ihre Blicke teils prüfend, teils entsetzt die Fassaden auf und ab gleiten, während Chinesen eifrig Schilder mit der Aufschrift »Zimmer zu vermieten« an die Haustüren hängten.
    »Looksee, looksee, nice room!«, forderten sie uns auf.
    »Gehen wir doch einfach mal rein«, schlug ich hinterlistig vor.
    Mir war klar, was sich hinter solchen Angeboten verbarg, doch der Plan ging auf: Nachdem Konitzers mehrere dunkle Bruchbuden besichtigt hatten, deren Besitzer einen unfassbaren Wucherpreis verlangten, begannen sie alles, was nicht viel größer, aber sauberer war, bereits mit anderen Augen zu betrachten. Und auch was Wohnungen mit komfortabel angrenzender Zahnarztpraxis betraf, näherten sie sich noch im Laufe des Nachmittags der Realität.
    »Nun gut«, sagte Onkel Victor nach einigen Stunden matt. »Glaubst du, Ziska, es lassen sich Wohnungen mit zwei Zimmerchen finden, die einigermaßen hell und trocken sind und in denen man wenigstens eine Art Schranktür vor dem Toiletteneimer anbringen kann …?«
    »Ich glaube, das ist nicht ganz aussichtslos«, erwiderte ich aufmunternd.
    Am Tag bevor das Ghetto Hongkou im Mai 1943 in Betrieb genommen wurde, zogen Konitzers in eine sehr akzeptable Wohnung in der Kung Ping Road, für die sie bereits seit Anfang März eine nicht allzu unverschämte Miete zahlten. Die beiden Zimmer hatten zusammen immerhin die Größe ihres bisherigen Wohnzimmers und an der Art, wie Mischa und sein Vater die weinende Tante Irma trösteten, erkannte ich, dass sie eingesehen hatten, mit dieser Unterkunft eins der größeren Lose in Hongkou gezogen zu haben.
    Onkel Eriks Schattenplatz auf dem Dach hatte nicht einmal den ersten Herbst überdauert. Die Abreise meines Onkels war in den Beginn der Taifun-Saison gefallen und schon zehn Tage später krachte, während meine Eltern und ich uns gegen unsere windgeschüttelten Fensterchen stemmten, plötzlich der gesamte Aufbau aus Pfosten und Bambusmatten mit Getöse an uns vorbei vom Dach. Zum Glück konnte sich während eines Taifuns draußen niemand auf den Beinen halten, sonst hätte es auf der Straße womöglich Verletzte gegeben.
    Mischa und ich blickten vom Dach auf die nicht abreißende Prozession von Rikschas, die Menschen und Umzugsgut transportierten. Konitzers Besitz hatte auf sieben Rikschas gepasst, einen Teil ihres Mobiliars mussten sie zurücklassen. Mit Seilen vertäut, war der Zahnarztstuhl die größte Attraktion gewesen, und vor der Praxis, die er sich mit mehreren Kollegen teilen würde, hatte Onkel Victor noch während des Abladens Termine gemacht.
    »Mama wird sich schon beruhigen«, meinte Mischa. »Hoffentlich tut es ihr nicht leid, dass sie die Scheidung abgelehnt hat.«
    Ich sah ihn verdutzt an. »Sie hat eine Aufforderung bekommen, sich im deutschen Konsulat zu melden«, erklärte er. »Es wurde ihr nahegelegt, sich von dem Juden Konitzer scheiden zu lassen, dann würden alle folgenden Maßnahmen sie gar nicht betreffen. Was die Maßnahmen sein sollten, hat ihr allerdings niemand gesagt.«
    »Mischa, deine Mutter würde sich doch niemals scheiden lassen!«
    »Sag das nicht. Einige Bekannte haben es genauso gemacht, damit ihre christlichen Frauen mit den Kindern im Settlement bleiben können. Es ist keine richtige Scheidung, weißt du? Es bedeutet nichts. Wenn der Krieg vorbei ist, machen sie alles wieder rückgängig.«
    Einige Minuten standen wir schweigend an der Dachkante und schlürften unseren Tee. Mischa war vorbeigekommen, um seinen Eltern ein wenig Zeit allein zu geben; dass sie auf so engem Raum zusammenhocken

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