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Nanking Road

Nanking Road

Titel: Nanking Road Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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sie, wobei er brüllte und tobte, dass man seine kreischende Stimme bis auf die Straße hören konnte.
    Niemand wehrte sich. »General Goya« hatte so offensichtlich eine Schraube locker, dass es unter der Würde jedes Mannes gewesen wäre, zurückzuschlagen. Ich stellte mir den widerwärtigen Kerl vor, der auf seinem Tisch herumsprang, und mich schauderte. Wenn Goyas Stimme durchs Fenster drang, wurde es ziemlich still in unserer Warteschlange. Wir alle wussten, dass er die lebenswichtigen Passierscheine grundlos verweigern konnte.
    Es war eine Macht, von der er ausgiebig Gebrauch machte. Die Betroffenen konnten ihre Arbeitsplätze nicht erreichen, verdienten kein Geld, ihre Familien hungerten. Insofern hatte Goya nicht übertrieben – er war »der König der Juden«, Herrscher über Gedeih und Verderb der Ghettobewohner.
    Aber an diesem Tag blieb es tatsächlich ruhig und das leise Brummen, das mit einem Mal über uns auftauchte, wurde fast augenblicklich bemerkt. Ich klappte meinen Schirm zu und starrte mit angehaltenem Atem zum Himmel. Auf der Straße stockte der Verkehr; Fußgänger, Rikschas, Fahrradfahrer, die Bao Jia -Patrouille, alles stand still, den Kopf im Nacken, als hätte eine höhere Macht die Straße mit einem Bann belegt.
    Hunderte Flugzeuge über dem eigenen Kopf haben etwas Beängstigendes, selbst wenn sie in zweitausend Metern Höhe so ruhig, zügig und wenig angriffslustig fliegen wie eine Schar Wildgänse. Selbst wenn Stimmen sie sofort flüsternd als Alliierte identifizierten und fachsimpelten, ob es britische Hurricanes, amerikanische Wildcats oder australische Beaufighters waren. Elwi fand den Anblick nicht weniger unheimlich als ich und zog mich heftig am Arm.
    Alliierte schön und gut, hieß das, aber je dichter wir uns an die Hauswand drücken, desto besser.
    Die Bomber zogen in südlicher Richtung davon. Nach ihrer Niederlage in Guadalcanal und auf den Salomonen waren die Japaner nun auch auf den Marshall-Inseln, in Neu-Guinea und Birma in Bedrängnis. Ihr Kriegsglück schien sich zu wenden, ganz wie Mischa vorhergesagt hatte, und der Anblick der Flugzeuge über unseren Köpfen löste, kaum dass sie verschwunden waren, Hoffnung, nahezu Überschwang in der Warteschlange aus. Es war, als wäre den abgerissenen, hungrigen, erschöpften Flüchtlingen vor Goyas Fenster eine stärkende Suppe gereicht worden – mit einem Mal hatten alle wieder Kraft.
    Nur Elwi klagte: »Ziska, ich kann nicht mehr, ich habe bestimmt einen Sonnenstich. Meinst du, deine Mutter hat sich jetzt genug ausgeruht?«
    Sie war leichenblass, ihre Knie zitterten. Ich gab ihr meine Wasserflasche und die Frau hinter uns meinte: »Setz dich besser, Kleine, bevor du aus den Latschen kippst.«
    Kleine war ein wenig übertrieben, denn Elwi überragte sowohl mich als auch die hilfsbereite Frau um einen halben Kopf, aber meine Freundin gehorchte und ließ sich langsam an der Hauswand zu Boden rutschen.
    »Ich beeile mich«, versprach ich, ließ meine noch halb volle Wasserflasche da und nahm Elwis mit, um sie zu Hause neu zu füllen. Ohne Wasser unterwegs zu sein, kam bei diesen Temperaturen tödlichem Leichtsinn gleich.
    Die Warteschlange hinter uns war kürzer als noch vor zwei Stunden. Ich vermutete, dass etliche Anwärter bereits aufgegeben hatten und wieder nach Hause gegangen waren. Wer sich nicht gleich morgens anstellte, hatte kaum eine Chance, zu Goya vorzudringen, und ich bedachte die letzten Wartenden mit einem mitfühlenden Blick.
    »Es geht etwas schneller als gestern, er brüllt kaum herum«, sagte ich ermutigend.
    Judiths Augen weiteten sich, als sie mich erkannte. Ich hatte sie schon am Vortag in der Warteschlange gesehen und, als sie mich ignorierte, beschämt den Kopf gesenkt. Erst jetzt, als ich direkt vor ihr stand, wurde mir bewusst, dass sie mich einfach nicht erkannt hatte. Unsere letzte Begegnung lag drei Jahre zurück, damals war ich zwölf gewesen. Natürlich hatte ich mich verändert.
    »Ziska?«, fragte sie mit heiserer Stimme.
    »Hallo, Judith«, sagte ich leise.
    Abgesehen davon, dass sie nicht weniger mitgenommen aussah als wir alle, war sie dieselbe schöne, stolze Judith, für die ich so geschwärmt hatte. Sie musste die Schule vor ein, zwei Jahren beendet haben. Wo sie wohl arbeitete? Müde starrte sie mich an, weder feindselig noch neugierig noch allzu überrascht; es war ja zu erwarten gewesen, dass wir uns innerhalb eines so winzigen Ghettos irgendwann über den Weg liefen.
    Eigentlich war ich

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