Nanking Road
doppelt vergeben worden war. In einigen Straßen hatte es regelrechte Schlägereien um Zimmer gegeben.
»Komm«, sagte Mischa, »schauen wir uns an, wie sie hinter uns zumachen.«
Die Garden Bridge war hoffnungslos verstopft. Offenbar hatten die meisten, die nach Hongkou umziehen mussten, bis zum allerletzten Augenblick gewartet. Überall sah man gut gelaunte Kulis. Sie hatten ihre Preise der Inflation angepasst und machten an diesem Tag das Geschäft ihres Lebens; überhaupt standen sie mit einem Mal besser da als wir, denn im Gegensatz zu uns Flüchtlingen durften sie sich auch außerhalb des Ghettos bewegen.
Von uns kam aus dem Ghetto nur noch heraus, wer nachweislich Arbeit im Settlement hatte und sich im »Büro für staatenlose Flüchtlinge« die entsprechenden Passierscheine besorgte. Es gab Tages-, Wochen- und Monatsausweise, in denen genau festgelegt wurde, in welchen Straßen man sich bewegen durfte. Mamu würde einen Passierschein beantragen können, Tante Irma durfte als arische Deutsche sowieso hinaus, aber Papa und ich, Elwi, Mischa und Onkel Victor saßen von nun an in Hongkou fest.
Immerhin gab es keine Mauer. An mehreren Stellen hatten die Japaner bewachte Sperren errichtet, an denen jeder Ankommende seine Papiere vorzeigen musste, ansonsten oblag es einem Wachdienst, die Ghettogrenze zu kontrollieren. Einige Flüchtlinge standen, ausgestattet mit Trillerpfeifen und der Armbinde dieser Bao Jia , bereits mit unglücklichen Gesichtern herum und traten beschämt von einem Bein aufs andere.
Die Idee, die Ghettobewohner sich selbst kontrollieren zu lassen, fand ich schlau und hinterlistig. Jeder männliche Flüchtling musste sich zur Bao Jia melden und die Japaner ließen keinen Zweifel aufkommen, dass nicht nur Verstöße der Grenzgänger, sondern auch des Wachdienstes hart bestraft werden würden. Ganz sicher würde niemand wagen, auch nur den kleinsten Verstoß seiner Landsleute zu tolerieren.
Während ich zur Garden Bridge hinüberschaute, deren Zugang bereits nicht mehr zum Ghetto gehörte, stiegen mir langsam, aber unaufhaltsam Tränen in die Kehle. Den Gang über diese Brücke hatte ich geliebt – gewiss nicht die japanischen Posten, aber den Blick auf die prachtvolle Uferpromenade, die Schiffe aus der ganzen Welt, auf diese völlig andere Stadt, die ich in nur wenigen Metern erreicht haben würde …
Aus. Nie mehr. Von nun an waren das Settlement, die Nanking Road, der Public Garden verbotenes Gebiet. Im Gedränge um mich herum musste ich mich auf die Zehenspitzen stellen, um den vertrauten Anblick wenigstens in der Ferne auszumachen. Die Leute schubsten und schoben einander vorwärts und traten sich gegenseitig auf die Füße; bleiche, verzweifelte Gesichter starrten mich an und durch mich hindurch, und ich merkte, wie ich zu zittern begann.
Denn das hier war schlimmer, als sich auf Bänken im Park nicht setzen zu dürfen, als nicht mehr Straßenbahn fahren oder ins Kino gehen zu können. Das hier war schlimmer als jedes Verbot, das wir in Deutschland gekannt hatten. Aus einer, aus unserer Stadt hatte uns bisher noch niemand ausgesperrt.
Meine Hände ballten sich zu Fäusten vor Angst und ohnmächtiger Wut. Ich machte gar keinen Versuch, den hasserfüllten Blick zu unterdrücken, mit dem ich die japanischen Posten bedachte. Wie konnten sie es wagen!
»Na, so eine Überraschung«, sagte in diesem Moment eine bekannte Stimme und Elwi legte mir von hinten den Arm um die Schulter, wobei sie es fertigbrachte, herausfordernd und entschuldigend zugleich dreinzuschauen. »Willst du mich, wo wir nun schon alle zusammen eingesperrt werden, nicht wenigstens vorstellen?«
Ein wenig zerstreut machte ich Mischa und Elwi bekannt. »Es ist natürlich keine Überraschung«, korrigierte sich meine Freundin gleich selbst. »Ich habe am Haus nebenan gewartet und bin euch gefolgt, als ihr endlich herauskamt.«
»Warum bist du nicht zu uns aufs Dach gekommen?«, fragte ich irritiert.
»Warum hast du nicht nach links und rechts gesehen?«, gab sie gelassen zurück, bevor sie sich mit unverhohlener Neugier an Mischa wandte.
»Du bist also der wiedergefundene Freund! Wirst du auf unsere Schule gehen?«
»Ja, wohl oder übel, denn ich habe noch ein Jahr bis zum Abschluss«, gab Mischa zurück und bedachte die freche Elwi mit einem freundlich-belustigten Blick.
»Wohl oder übel wirst du bald zurücknehmen, glaub mir. Die Kadoorie-Schule ist einzigartig, vor allem seit wir in das nagelneue Gebäude an der
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