Nanking Road
seinen aus Deutschland geretteten Besitz, als ob es ihm gar nichts ausmachte.
»Sehen Sie, meine Dame! Über diesen reizenden Teppich ist im Jahr 1928 der berühmte jüdische Dirigent Jascha Horenstein geschritten, wenn auch zugegebenermaßen nur zwei Mal, und Sie können ihn heute zum absoluten Notpreis erwerben! – Was, Sie gehen weiter? Haben Sie nicht gehört, was ich gesagt habe? Wir reden hier von Jascha Horenstein!«
Die Einzigen, die immer gut zu tun hatten, waren die Mitglieder der Beerdigungsgesellschaft Chewra Kadischa. Die beiden kleinen jüdischen Hospitäler kamen an Medikamente kaum heran und für das gut ausgestattete General Hospital fehlte den Flüchtlingen das nötige Bestechungsgeld. Im Februar beerdigten wir Elwis Vater, der an der Ruhr gestorben war, und viele seiner jahrelangen Nachbarn im Heim konnten nicht dabei sein, da sie keine Kleidung mehr besaßen. Als Herr Bauer von den Bestattern abgeholt wurde, sahen wir Menschen schlotternd vor Kälte oder Schwäche um ihre einzige Mahlzeit des Tages anstehen, die Reste eines Mantels oder eines aufgeschnittenen Kartoffelsacks um den Leib gebunden, die frostzerbeulten Füße mit Lumpen umwickelt.
Zu meinem eigenen Erschrecken fühlte ich fast nichts mehr, wenn ich solcher Armut begegnete. Über die am Straßenrand verhungernden Chinesen stieg ich hinweg. Zu Mitgefühl ist man nicht mehr in der Lage, wenn man so hungrig durch den Tag läuft wie wir in diesem fünften Winter in Shanghai. Was den einen heute widerfuhr, blühte uns vielleicht in zwei, drei Wochen, und dann würde auch uns niemand helfen.
Es war hässlich, sich selbst so gut kennenzulernen. An manchen Tagen konnte ich regelrecht spüren, wie die Schäbigkeit und Kälte, das ganze Elend meiner Umgebung sich auch in meinem Inneren auszubreiten begann. Eigentlich musste ich erleichtert sein, dass ich wenigstens noch Schmerz fühlen konnte.
Der Verlust von Mischa und Elwi traf mich völlig unvorbereitet. Seit Monaten hatten wir fast alles zu dritt unternommen. Wir standen in der Schulpause beisammen, trafen uns bei Mischa oder mir, und ab und zu gingen wir sogar ins »Kino«, eine zugige Lagerhalle, die hauptsächlich deutsche Schnulzen zeigte, aber wenigstens ein bisschen Abwechslung bot. Rechtzeitig vor Beginn der nächtlichen Ausgangssperre brachte Mischa uns nach Hause, die eine links, die andere rechts untergehakt, eine Vertrautheit, an die ich mich gewöhnt hatte.
Als wir eines Abends Judith begegneten, drückte ich den Rücken durch und hob den Kopf – nicht unfreundlich, aber auch ein wenig herausfordernd. Zu meinem Unbehagen war sie in Begleitung eines Japaners.
»Guten Abend«, sagten Mischa und ich gedämpft, und Judith nickte uns ernst zu.
»Wer war das?«, fragte Elwi, kaum dass wir an den beiden vorbei waren.
»Jemand, den Ziska und ich auf der Jewish School kannten«, erwiderte Mischa.
»Das war nicht Jemand, das war Judith«, korrigierte ich ihn. »Mischa und ich haben für sie geschwärmt.«
»Geschwärmt? Ich?«, protestierte Mischa.
Ich gab ihm einen leichten Schubs. »Immer kamst du von irgendwo angesaust, jede Gelegenheit hast du genutzt, sie zu sehen! Du hast ihr sogar die Tasche getragen, wenn wir uns zum Laufen getroffen haben.«
Mischa schüttelte den Kopf. »Dich wollte ich sehen, nicht Judith! Hast du gar nicht gemerkt, dass ich seit dem Schiff in dich verknallt war?«
Ich fiel fast über seine Füße vor Überraschung. Wir blieben stehen, ich ließ seinen Arm los und sah ihn fassungslos an.
Mischa seufzte. »Du warst schon immer schwer von Begriff«, meinte er theatralisch.
Elwi, die an seiner anderen Seite hing, kicherte. Noch nie hatte ich mich daran gestört, dass wir zu dritt waren, aber jetzt wusste ich nicht, was mich mehr verletzte: dass Mischa ein solches Bekenntnis in Elwis Beisein einfach so hinwarf oder dass sie darüber lachte.
»Na, Hauptsache, es ist vorbei!«, sagte ich bissig.
»Keine Sorge«, erwiderte er nur.
Ich hakte mich wieder ein, um seiner Bemerkung nicht noch mehr Gewicht zu verleihen, aber nachdem die beiden mich zu Hause abgeliefert hatten, schloss ich die Tür hinter mir und überlegte einen Augenblick ernsthaft, in Tränen auszubrechen. Hinter der Tür hörte ich, wie ihre vergnügten Stimmen sich entfernten.
Wie albern!, dachte ich und riss mich zusammen. Aus welchem Grund sollte ich heulen? »Es« war vorbei, das hatte Mischa selbst gesagt, und Elwi hatte ganz Recht: Über diese alte Geschichte konnte man nur
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