Nanking Road
ganz froh, es endlich hinter mich bringen zu können.
»Ich muss los, meiner Freundin weiter vorn in der Reihe geht es nicht gut«, sagte ich. »Aber falls du dich überhaupt je gefragt hast, was ich damals im Reisebüro wollte, dann kann ich es dir jetzt sagen. Mein Onkel hat Papiere gebraucht, um Shanghai zu verlassen und seine Familie aus Deutschland zu holen. Es hat nicht geklappt, er ist mit meiner Tante und meiner Cousine irgendwo unterwegs verschollen. Aber für ihn war es richtig, es wenigstens zu versuchen. Das darfst du gern anders sehen, aber so war es.«
Judith antwortete nicht. Ich wandte mich ab, den Tränen nahe, doch schon während ich mich entfernte, merkte ich, wie meine Schritte leichter wurden.
Es war richtig, es war richtig, flüsterte es in mir, und an der Straßenecke wusste ich schon kaum noch, ob ich es wirklich zu Judith gesagt hatte oder nicht doch zu mir selbst.
Denn endlich, fast drei Jahre später, spürte ich, dass es stimmte. Obwohl Onkel Eriks Reise gescheitert war, ihn vielleicht sogar das Leben gekostet hatte, war es richtig gewesen, alles für Evchen und Tante Ruth zu versuchen, was wir konnten. Hätte ich Frau Kepler mit ihren Kontakten verschwiegen und meinen Onkel auf eigene Faust fahren lassen – dann, nur dann, hätte ich Grund gehabt, mir nicht zu verzeihen.
Was immer danach passiert war: Es war nicht meine Schuld.
21
Mit der wachsenden Zahl alliierter Erfolge fiel es schwerer, Hongkou auszuhalten. Ungeduld kostet zu viel Energie, wenn alle Kraft sich darauf richten müsste, den nächsten und übernächsten Tag zu überstehen, doch das theoretisch zu wissen, half mir nicht. Ich konnte einfach nichts dagegen tun, mich ständig schlecht gelaunt zu fragen, wie lange es denn noch dauerte und ob die Amerikaner tatsächlich von uns erwarteten, einen weiteren Hungerwinter durchzuhalten. In flammender Empörung haderte ich mit dem Joint, der russische und polnische Juden in Shanghai weiterhin unterstützte, während wir, die aus den Feindesländern Deutschland oder Österreich stammten, sehen mussten, wie wir zurechtkamen. Wenn ich den wohlgenährten polnischen Flüchtlingen begegnete, die nicht daran dachten, mit uns zu teilen, fühlte ich Neid und Wut mich fast verbrennen – und war noch erschöpfter und missmutiger als zuvor.
Dass die Alliierten auf Sizilien gelandet und Mussolini von der eigenen Bevölkerung gestürzt worden war, erfuhr ich von Mischa, der es wiederum von Rainer gehört hatte. Der Fü musste den Duce in einer dramatischen Aktion sogar entführen lassen, um ihn vor der Auslieferung zu retten. Danach stand Mussolini in Norditalien an der Spitze einer faschistischen Gegenregierung, aber erst lief die gesamte italienische Flotte zu den Alliierten über, dann erklärte die neue Regierung Süditaliens Deutschland den Krieg, und schließlich hatte niemand von uns mehr den Überblick, wer in Italien nun eigentlich wo kämpfte.
Wir merkten nur, dass der Krieg in Europa Kräfte bündelte, die im Pazifik fehlten. Die Eroberung kleinster Inseln dauerte Monate. Die Japaner verloren Zehntausende Soldaten und Unmengen von Schiffen und Flugzeugen, aber zu kapitulieren kam für sie nicht infrage. Lieber stürzten sich Kamikaze-Piloten mit Sprengstoff an Bord auf amerikanische Flugzeugträger, oder in die Enge getriebene Infanteristen verübten im Dschungel Bushido , um wenigstens noch eine Handvoll Amerikaner mit in den Tod zu reißen.
Wenigstens wurde mir allmählich klarer, warum der Krieg so lange dauerte. Es war schwer, gegen Leute zu gewinnen, die nicht einmal ihr eigenes Leben zu verlieren hatten.
Im Januar 1944 feierten wir meinen sechzehnten und Gerda Fränkels dritten Geburtstag und fühlten uns in unserem kleinen Ghetto buchstäblich am Ende der Welt. Man hatte uns vergessen. In Europa, Russland, Afrika, im Pazifik, überall waren die Alliierten auf dem Vormarsch, doch unsere Lage wurde immer schlechter. Meine Eltern und ich wurden nur noch selten satt, seit Mamu nicht mehr mitverdiente. Das Hotel, ihr letzter Arbeitgeber im Settlement, hatte ihr gekündigt, nachdem sie mehrmals keinen Passierschein erhalten hatte.
Auch Onkel Victors Praxis warf in den zwei Stunden pro Tag, in denen der Raum zu seiner Verfügung stand, kaum noch etwas ab. In den übrigen Stunden stand er auf dem Straßenflohmarkt in der Kung Ping Road und bot Wertgegenstände, Kleidung und Hausrat an. Ich bewunderte ihn für die gute Laune, die er dabei zur Schau stellte. Er verkaufte
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