Nanking Road
Heim werde ich gebraucht«, sagte sie und verließ ihre geliebte kleine Wohnung, ohne sich ein einziges Mal umzudrehen.
Nur ich stahl noch einen letzten Blick. Judiths Wohnung, die Kadoorie-Schule, das Reisebüro – die Orte in Shanghai, an denen ich am glücklichsten gewesen war, verschwanden einer nach dem anderen aus meinem Leben.
Wenige Tage später sprach sich, während ich mit unserem Henkeltopf vor dem Ward Road-Heim wartete, eine rätselhafte Meldung herum, die angeblich in Shanghaier Zeitungen stand: Die Amerikaner hätten »eine neuartige Bombe« auf eine japanische Stadt namens Hiroshima geworfen, die weniger als tausend Kilometer Luftlinie von uns entfernt lag. Unter einer »neuartigen Bombe« konnte sich niemand etwas vorstellen, aber jeder hoffte voller Sorge, dass nicht auch noch wir Bekanntschaft damit machen würden.
Die nächsten Tage behielt ich den Himmel streng im Auge. Auf Alarm war kein Verlass, die Flugzeuge waren fast immer schon über uns, wenn die Sirenen uns warnten, aber von Amerikanern, mit oder ohne »neuartiger Bombe«, war zum Glück nichts zu sehen.
Nur die Tiere waren wieder seltsam unruhig in diesen Tagen und später behaupteten mehrere Leute, sie wären von einem Geräusch aufgewacht, das wie Meeresrauschen klang, und hätten, als sie ins Freie traten, in der stickigen, feuchtheißen Nacht zum 9. August einen unerklärlich starken Wind gespürt.
Am 10. August tauchte ein einzelnes amerikanisches Flugzeug über uns auf, zog über die zerstörten Dächer von Hongkou und verschwand in Richtung Fluss. Am Abend hieß es, es seien Flugblätter abgeworfen worden.
»Der Krieg ist aus! Die Amerikaner haben eine zweite Atombombe geworfen, was immer das ist, und der Tenno hat die Kapitulation angekündigt!«
»Das kann nicht sein. Die Japaner sind doch noch da! Sie sind überall, scheuchen die Leute von der Straße und versuchen das Gerede zu unterbinden.«
»Aber es soll auch im Radio gesendet worden sein!«
Eine ratlose Schar hatte sich im Café Piefke versammelt. Mein Vater, der an diesem Nachmittag Dienst mit seiner Bao Jia -Brigade gehabt hatte, bestätigte, dass sich draußen überhaupt nichts geändert hatte – bis auf das neue Gerücht.
»Ein paar Leute haben getanzt und amerikanische Flaggen geschwenkt, aber die Soldaten sind sofort eingeschritten. Man kann froh sein, dass sie nicht in die Menge geschossen haben.«
»Hätten sie nicht genau das getan, wenn die Nachricht nicht stimmte …?«
»Genau! Der Krieg muss verloren sein, nur deshalb haben sie nicht zu schießen gewagt!«
Bis zum Abend gab es nur noch Einzelne, die nicht an eine japanische Kapitulation glaubten, aber dass der Tenno dazu bereit war, hieß anscheinend nicht, dass die Japaner in Shanghai sie auch akzeptierten.
Noch einmal loderte Angst auf. Was würden unsere Besatzer tun, wenn sie nichts mehr zu verlieren hatten? Das Ghetto anzünden?
Viele, auch Papa, Herr Hu und Herr Löw, verbrachten die nächsten Nächte auf dem Dach, um notfalls Alarm zu schlagen. Ich selbst hatte meine Liege direkt unters Fenster gerückt, wachte, schnüffelte und lauschte, bis mein Kopf surrte, Hände und Beine schwer wurden und ich das panische Gefühl niederkämpfen musste, dass mein strichdünner Körper, sobald ich einschlief, Teil der Matratze wurde.
Dass die Japaner sich in einer dieser bang durchwachten Nächte aus dem Staub machten, blieb unbemerkt. Am vierten Morgen fehlten plötzlich die Posten auf der Brücke, waren das Hauptquartier im Bridge House und die Wachhäuschen an den Ghettogrenzen verwaist, und binnen Minuten war ganz Hongkou auf den Beinen, um es mit eigenen Augen zu sehen: Die Besatzer waren still und heimlich verschwunden, waren einfach nicht mehr da.
Nun kannst du gehen, wohin du willst.
Der Gedanke durchbrauste mich, als ich aus dem Haus trat – und beinahe hätte ich wieder kehrtgemacht. Ich erinnerte mich ja nicht einmal daran, wie man so etwas machte: gehen, wohin ich wollte. Seit ich gehen konnte, hatten meine Eltern und ich genau das nicht gedurft, und die Fülle der Möglichkeiten, die sich mit einem Mal vor mir auftat, war so ungeheuerlich, dass ich nicht wusste, wohin ich mich wenden sollte.
Zur Garden Bridge, meinen vertrauten Weg? Ich brannte darauf, das Settlement wiederzusehen, aber dorthin war jetzt jeder unterwegs und wenn ich eins nicht wollte, dann war es eine weitere Menschenmenge um mich herum! Also riss ich mich von der Haustür los und ging in die Gegenrichtung,
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