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Nanking Road

Nanking Road

Titel: Nanking Road Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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fast nichts mehr besessen, all ihre Wertsachen zu Geld gemacht. Die wenigen Lebensmittel aus dem Vorratsschrank lieferten wir im Seward Road-Heim ab.
    Von Anita und Heinz Fränkel und ihrer Tochter Gerda blieben ein Dutzend zusammengeschnürte Briefe aus England und zwei Fotoalben, die zwei Geschichten erzählten. Die erste, mit Bildern aus ihren sechs Jahren mit Jakob, brach in der Mitte des Albums ab, die zweite begann mit Gerda, als hätten die ersten Jahre in Shanghai gar nicht stattgefunden. Sie endete nach nur wenigen Seiten mit ein paar Fotos aus dem letzten Herbst und auch das war eine eigene Geschichte, denn Herr Fränkel hatte die Bilder aufgenommen, unmittelbar bevor er seine Kamera auf dem Straßenflohmarkt hatte verkaufen müssen.
    »Wir nehmen die Alben mit«, beschloss ich. »Irgendwie werden wir es schaffen, sie Jakob zurückzugeben. Stell dir nur vor, er hat von Gerda nie erfahren!«
    Meine Mutter strich traurig und zärtlich über das Deckblatt des Gerda-Albums. »Du hast Recht. Die Alben und Briefe müssen mit, und wenn das das Einzige ist, das wir bis dahin noch im Koffer haben!«
    Herr Hu saß im Flur auf der Treppe, an derselben Stelle, an der ich mich so oft an Frau Fränkel vorbeigedrückt hatte. »Finishee?«, fragte er im Aufstehen, als wir aus der Wohnung kamen, und seine Augen wurden feucht.
    »Finishee«, sagte meine Mutter leise und ließ den Wohnungsschlüssel in seine Hand fallen.
    Draußen wartete bereits die neue Familie. Herr und Frau Löw und ihre erwachsene Tochter Silke hatten ihre Wohnung in der Tangshan Road verloren und konnten ihr Glück kaum fassen, dass in unserem Haus noch am selben Tag ein möbliertes Zimmer frei geworden war.

23
    Die von heimlichen Zweifeln begleitete Hoffnung, dass die Bombardierung des Ghettos nur ein Irrtum gewesen sein konnte, stellte sich eine Woche später als trügerisch heraus. Beim zweiten Angriff, der dreieinhalb Stunden dauerte, flogen die Superfortresses so tief, dass das Dröhnen ihrer Motoren buchstäblich in meinen Zähnen widerhallte, während ich an unserer Hausmauer kauerte und mein Gesicht in den Armen versteckte. Flugabwehrgeschütze krachten, Sirenen heulten, Hunde wurden hysterisch und Löws, die mit knapper Not dem Einsturz ihres ersten Hauses entkommen waren, überschrien sich vor Angst bei jeder neuen Explosion.
    Nicht so die Chinesen. Als die Klappen der Flugzeuge sich öffneten und ihre in der Sonne glitzernden Bomben auf uns niederregnen ließen, saßen viele Einheimische auf den Dächern und feuerten die Amerikaner an. In der Zerstörung ihrer Stadt sahen sie wohl die einzige Chance, sich von den Japanern zu befreien. Dass es dabei Tote geben würde, nahmen sie ebenso selbstverständlich hin wie die Amerikaner, während mich die Tatsache völlig verstörte, dass es für diejenigen, die unschuldig einem größeren Ziel geopfert wurden, sogar eine ausgesprochen sachliche Bezeichnung gab: Kollateralschaden .
    Waren wir nach Shanghai geflüchtet, um zu Kollateralschäden zu werden …? Obwohl ich mich wie betäubt fühlte, während die Erde krachte und bebte, konnte ich meinem eigenen möglichen Ende keineswegs schon so sportlich entgegensehen wie unsere chinesischen Nachbarn. Wahrscheinlich – und das war immerhin ermutigend – steckte mehr Leben in mir, als ich nach einer Woche des Hungerns geglaubt hatte.
    Die Auswirkungen des ersten Bombenangriffs hatten Hongkou zum Erliegen gebracht. Über sechshundert Flüchtlinge waren obdachlos und durchstreiften die Stadt auf der verzweifelten Suche nach Essbarem; Raub und Einbrüche nahmen zu, obwohl die Heime sich redlich bemühten, für alle wenigstens eine karge Mahlzeit pro Tag bereitzustellen. Dies war nur möglich, weil viele Chinesen immer noch Lebensmittel spendeten. Passierscheine wurden nicht mehr ausgestellt, es gab kein Geld zu verdienen, auch Papas Nähmaschine stand still. Der Verkäufer im Wasserladen ließ uns anschreiben, damit wir morgens wenigstens unsere Kanne gekochtes Wasser holen konnten.
    »Wir leben, das ist die Hauptsache«, schwor Mamu uns ein. »Passt bloß auf, dass es uns nicht jetzt noch erwischt! Lauft immer mitten auf der Straße, es könnten Mauerteile oder Stücke von Dächern abbrechen. Geht Ansammlungen von Menschen aus dem Weg und habt ein Auge nach oben, ob Flugzeuge zu sehen sind!«
    Wie immer, wenn Gefahr drohte, lief meine Mutter zu großer Form auf, während ich von mir selbst maßlos enttäuscht war. Wenn Leben mehr als Existieren

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