Nanking Road
bedeutete, wenn es bedeutete, sich mit einem Ziel durch den Tag zu bewegen und einen klaren Gedanken zu fassen, der sich um etwas anderes drehte als um das Thema Essen, dann war ich nur eine Woche nach dem Angriff vom 17. Juli am Ende dessen angekommen, was Leben bislang geheißen hatte.
Dasselbe galt für das Wort Hunger. Das Wort Hunger hatte ich gedankenlos verwendet, wann immer ich nicht satt geworden war; jetzt bedeutete es, zu fühlen, wie mein Körper sich selbst verzehrte. Jeden Bissen spürte ich, nagende, bohrende, reißende Schmerzen in meinen Eingeweiden, als säße mir ein Raubtier im Bauch.
Mamu sagte nur: »Das dauert ein paar Tage, dann wird es besser.«
Die zweite Welle der Flugzeuge flog noch tiefer. Bestimmt konnten die Besatzungen uns in unseren Höfen kauern sehen. Bestimmt sahen sie gar nicht hin.
Tod aus der Hand unserer Befreier – was für eine jämmerliche Art zu sterben! Ich drückte mich enger an die Hauswand, als eine Explosion in unmittelbarer Nähe die Erde zerwühlte. Es regnete Bombensplitter, wie Glas klirrten sie zu Boden. Auf den Dächern schrien verwundete Chinesen, links und rechts von mir beteten meine Eltern, bloß mir wollte nicht ein einziges Wort einfallen, weder an Gott noch an Jahwe noch an Jesus. Nur ein ziemlich unangemessener Gedanke schoss mir durch den Kopf und blieb als kleines, irres Lachen in meiner Kehle stecken: Vielleicht versuche ich’s mit Buddha, falls wir am Leben bleiben.
Mamu hatte Recht: Die Hungerschmerzen wurden nach einigen Tagen erträglicher, als mein Körper sich damit abfand, dass es nichts zu essen gab. Ende des Monats lebten wir immer noch, obwohl im Ghetto inzwischen auch noch eine Choleraepidemie ausgebrochen war. Amerika hatte dem Tenno ein Ultimatum gestellt – Kapitulation oder völlige Zerstörung –, und als der nächste Angriff auf Hongkou erfolgte, wussten wir, was die Antwort der Japaner gewesen war.
Von unserer gewohnten Umgebung war wenig übrig, als ich mit einem Rest von Mut und Trotz vorsichtig wieder begann, mich im Ghetto zu bewegen. Vertraute Straßen waren nicht mehr zu erkennen, überall stieß ich auf große braune Flecken, die eingetrocknete Blutlachen auf dem Pflaster hinterlassen hatten. Einstürzende Ruinen kosteten weitere Menschenleben. Die Explosionen hatten die leichten Bauten Shanghais so gründlich durchgerüttelt, dass Gebäude noch Tage später in sich zusammenfielen, weil Holzkarren vorbeirumpelten.
Und dennoch gab es ab und zu einen Hauch von Normalität. Am letzten Schultag, zu dem wir eigens zusammengetrommelt worden waren, wurden Zeugnisse verteilt und Miss Schmidt wünschte uns schöne Ferien – bevor wir alle wieder irgendwo in Deckung gingen. Einige Mitschüler waren in abenteuerlichen Helmen gekommen, trugen zerbeulte Metalltöpfe oder -siebe auf dem Kopf. Eine wunderbare Idee, auf die ich leider nicht selbst gekommen war – inzwischen würde in den Trümmern nichts Brauchbares mehr zu finden sein.
»Herr Konitzer meint, es kann nicht mehr lange dauern«, sagte Elwi auf dem Heimweg.
Es war das erste Mal, dass sie Konitzers mir gegenüber erwähnte, und überrascht hörte ich, dass sie Onkel Victor immer noch wie einen Fremden anredete. »Wie sieht es denn aus«, fragte ich und fügte halb widerwillig, halb großzügig hinzu: »Bei euch.«
»Wenn Frau Konitzer nicht aus dem Ghetto herauskäme …«
Elwi ließ den Satz verklingen und ich fühlte einen Anflug von Missgunst, als ich erkannte, dass sie und Konitzers offenbar noch satt wurden. Früher hätte Tante Irma mit uns geteilt, trotz aller guten Vorsätze musste ich sofort daran denken.
»Grüß sie von mir«, sagte ich rasch, damit neben dem Hunger nicht auch noch der Neid an mir fraß, und bog an der nächsten Ecke ab, um nach Judith zu sehen.
Diese war zu Hause und packte, ich hatte es schon kommen sehen. Tashi, der die Miete für ihre Wohnung bezahlte, arbeitete in der japanischen Funkstation, einem Hauptziel der amerikanischen Bomben, und seit dem ersten Angriff hatte sie nichts mehr von ihm gehört.
»Vielleicht ist er nur abgezogen worden«, wiederholte sie zum dutzendsten Mal, wenn auch schon viel leiser, und wie in den letzten Tagen wusste ich nichts darauf zu erwidern. Mittlerweile war es Anfang August, die Miete überfällig, und uns beiden war klar, dass Tashi nicht mehr auftauchen würde.
Ich half Judith, ihre wenigen Habseligkeiten zu packen. Ich hatte ihr angeboten, zu uns zu kommen, aber das wollte sie nicht.
»Im
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