Nanking Road
ganz leise. »Wo ist Irma?«
Mit Tränen in den Augen nickte Onkel Victor zur angelehnten Schlafzimmertür. Meine Mutter durchquerte den Raum in wenigen Schritten und stieß die Tür auf, und ich fühlte meine Füße ihr ganz gegen meinen Willen folgen, während gleichzeitig ein dumpfes, wattiges Gefühl in meinen Kopf stieg, als wollte er nichts damit zu tun haben, was hinter der Tür war. Schockartig wurde mir klar, dass mein letzter Gedanke an Tante Irma ein Vorwurf gewesen war, ein kleinlicher, neidischer Vorwurf.
»Kann mir einer sagen, was das soll?«, fragte Mamu streng ins Dunkle hinein, und zu meiner Erleichterung hörte ich Tante Irmas eigene schwache Stimme: »Vorsicht, ansteckend …«
Mamu riss erst den Vorhang, dann das Fenster auf. Licht flutete das Zimmer und fiel auf Tante Irma, die blass und eingefallen im Bett lag und mit sichtlicher Anstrengung Luft holte.
» TBC «, flüsterte sie. »Bleib lieber draußen, Margot.«
» TBC ! Und was tust du hier? Wieso bist du nicht im Lazarett?«
Tante Irma schüttelte den Kopf und schloss die Augen. Onkel Victor sagte: »Sie will nicht. Es wäre meldepflichtig …«
»Alles wäre umsonst«, weinte Tante Irma.
Verständnislos sah ich von ihr zu Onkel Victor. Sein Gesicht war halb trotzig, halb verzweifelt. Mischa am Küchentisch senkte nur den Kopf.
Im Gegensatz zu Papa und mir verstand Mamu sofort. Sie kam zu uns zurück und schloss die Tür hinter sich. »Victor Konitzer«, zischte sie, »ihr wollt Irma da drinnen sterben lassen, damit ihr eure Einreise nach Australien nicht gefährdet?«
Onkel Victor bedeckte sein Gesicht mit einer Hand und schluchzte.
»So ist es nicht«, sagte Mischa müde. »Es ist Mama, die sich weigert, ins Krankenhaus zu gehen. Sie sagt, sie will nicht dafür verantwortlich sein, dass unsere Zukunft zerstört wird.«
Mamu gab Onkel Victor einen Schubs, dann einen zweiten, bis er sie voller Scham ansah.
»Dann bin eben ich dafür verantwortlich!«, sagte sie zwischen den Zähnen. »Franz und Ziska holen jetzt auf der Stelle Hilfe, ich bleibe bei Irma.«
Onkel Victor war so erleichtert, dass er umso lauter schluchzte. Papa und ich waren bereits an der Tür.
Die Sanitäter holten Tante Irma rechtzeitig aus dem Haus, die amerikanischen Lazarettärzte retteten ihr in den folgenden Monaten das Leben. Aber weder Australien noch die Vereinigten Staaten würden sie jetzt noch einwandern lassen.
24
Niemals zuvor war ich so langsam über die Garden Bridge gegangen. Jeden einzelnen Schritt, jede Sekunde meiner Vorfreude wollte ich auskosten, blieb in der Mitte der Brücke stehen – genau dort, wo einmal das japanische Postenhäuschen gewesen war –, blieb minutenlang stehen und schaute beglückt in das brackige, stinkende Wasser des Suzhou Creek. Noch mehr freute mich der Anblick der Chinesen, die ihre Brücke wieder überqueren konnten, ohne zu buckeln. Ihr Schritt war bereits fester geworden, der Gang aufrecht, die Köpfe erhoben. Es waren auch viel mehr von ihnen zu sehen als früher.
Auf der anderen Seite der Brücke schien hingegen alles wie immer. Die Gebäude waren kaum beschädigt, die Straßen intakt, Busse und Straßenbahnen fuhren, wenn auch unregelmäßig, und aus den Lautsprechern der Geschäfte in der Nanking Road übertönten sich sämtliche Radiosender, als müssten Jahre des Schweigens binnen weniger Stunden nachgeholt werden.
»Aber mit der offenen Stadt ist es endgültig vorbei«, meinte Frau Kepler.
Ich hatte kaum damit gerechnet, sie noch anzutreffen. Deutsche waren in Shanghai auffallend unsichtbar geworden, dafür waren Engländer, Franzosen und Amerikaner zurück, denen nach Jahren in den Internierungslagern ihre Kleidung am Leib schlotterte. Die wenigen japanischen Offiziere, die hatten bleiben müssen, um die Stadt geordnet an die Amerikaner zu übergeben, mussten einiges über sich ergehen lassen. Goya, der »König der Juden« aus der Passierscheinstelle, war von jugendlichen Flüchtlingen gestellt und verdroschen worden.
Japanische Zivilisten verkauften am Straßenrand ihren Hausrat. Sie sollten evakuiert werden, bevor die Truppen Chiang Kai-sheks in der Stadt eintrafen, und ihr flackernder Blick verriet, dass sie die Stunden schon zählten.
Ganz gegen meinen Willen taten sie mir leid, als ich sah, wie sie ihre Kochtöpfe und Kimonos feilboten. Es waren viele würdevolle alte Leute darunter, die schon lange in Shanghai gelebt haben mussten und mit Sicherheit nichts dafür konnten, was die
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