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Nanking Road

Nanking Road

Titel: Nanking Road Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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streifte ziellos durch Hongkou, während alle anderen Flüchtlinge, die sich irgend auf den Beinen halten konnten, begeistert über die Brücke ins Settlement stürmten. Auf unserer Seite sah ich Chinesen eine japanische Fahne von einem Haus zerren, jubeln, streiten, diskutieren, aufräumen; sah, völlig ungewohnt, kein einziges weißes Gesicht.
    So, genau so würde es hier aussehen, wenn wir alle verschwunden waren. Das eine oder andere deutschsprachige Schild würde wohl hängen bleiben, vielleicht übermalt werden, wenn sich jemand die Mühe machte, doch neue Bewohner würden uns sofort folgen, Behausungen in Besitz nehmen, würden sich vielleicht über so seltsame Installationen wie Toilettensitze wundern – aber würden sie sich noch dafür interessieren, wer wir gewesen waren? Würde sich in zehn, in zwanzig Jahren jemand an uns erinnern? Eine große Schar zerlumpter Langnasen, die vor dem Tod in Europa geflohen, überraschend aufgetaucht und für eine Zeit geblieben waren; eine Zeit, die ihnen sehr lang erschienen war, obwohl sie in Wirklichkeit nicht mehr als ein Fingerschnippen in der Weltgeschichte gedauert hatte.
    Den Boden Hongkous noch unter den Füßen, fühlte ich mich staunend Vergangenheit werden, als am Ende einer Gasse plötzlich zwei sehr große Gestalten um die Ecke bogen und direkt auf mich zu schlenderten, gefolgt von einem Dutzend lachender, einander schubsender Chinesen. Es handelte sich um die ersten amerikanischen GI s, die bereits erwartet worden waren, und ich setzte ein dankbares Lächeln auf und ging ihnen entgegen.
    Einer der Männer hatte rötliches Haar und grinste mich an, der andere …
    Ich blieb wie angewurzelt stehen. Träumte ich? Das war doch nicht möglich! Er, hier?
    Ich war so erschüttert, dass ich mich beinahe umgedreht und die Flucht ergriffen hätte, stattdessen gaben meine Knie nach, ich hielt mich an der Hauswand fest und glotzte den zweiten amerikanischen Soldaten mit offenem Mund auf die peinlichste Art und Weise an.
    »Noch nie einen schwarzen Mann gesehen?«, fragte er halb ungeduldig, halb herausfordernd.
    Ich starrte auf das Namensschild an seiner Uniform. Da stand es, aufgenäht in schwarzen Buchstaben. Ich konnte es nicht fassen.
    »In Berlin«, sagte ich schwach. »Es ist lange her. Ich hatte eine Starpostkarte von Ihnen über meinem Bett …«
    Der Soldat legte den Kopf in den Nacken und lachte schallend. Dann gab er mir die Hand und erwiderte: »Ich werde meinem Onkel schreiben, dass ich sogar in China einen Fan von ihm getroffen habe. Gestatten, Jesse Owens III ., fünfzehn Jahre jünger und nur ein Verwandter zweiten Grades, aber meine Mutter findet auch, dass ich ihm wie aus dem Gesicht geschnitten bin.«
    Ich drückte seine Hand so fest ich konnte, ich blickte in sein strahlendes Gesicht … und mit einem Mal begriff ich all die Dinge, die an diesem Morgen passierten, begriff sie gleichzeitig und konnte endlich jubeln. Wir waren frei, unsere Feinde vernichtet, der Krieg war aus, aus, aus und wir konnten gehen, wohin wir wollten.
    Jesse Owens hatte mich befreit. Hatte ich es nicht immer geahnt?
    Nur wenige Stunden später standen meine Eltern und ich wieder in der Warteschlange vor dem Ward Road-Heim, doch statt einer Kelle Suppe oder matschigen Hirsebrei trugen wir einen der großen Kartons nach Hause, die die Amerikaner von ihren Lastwagen reichten: Schatzkisten voller Konserven, Kaffee, Milchpulver, Zigaretten, Schokolade und dünnen, in Silberpapier gewickelten Streifen, die sich Chewing Gum nannten. Wir waren nicht ganz sicher, wozu sie gut waren, nahmen sie aber vorsichtshalber trotzdem mit. Vielleicht, flüsterte Mamu mir zu, konnte man sie auf dem Flohmarkt gegen etwas Brauchbares tauschen.
    »Mensch, Mamu!«, flüsterte ich zurück. »Wir müssen nicht mehr auf den Flohmarkt, verstehst du das nicht? Die Amerikaner sind da und sorgen für uns!«
    Meine Mutter wischte sich eine Träne ab, dann eine zweite. Ich drückte sie ganz fest, der Auftakt für eine weitere Freudenfeier. Erst gesellten sich die Arme meines Vaters dazu, dann beteiligten sich Frau Löw und Frau Wangenheim, und schließlich umarmte und küsste uns jemand, den wir überhaupt nicht kannten.
    Mit vereinten Kräften trugen wir unsere Schatzkiste nach Hause, vorbei an vier amerikanischen Soldaten mit Kameras, die auf der Straße standen, uns beobachteten … und nicht im Geringsten lächelten. Und plötzlich schämte ich mich für unser heruntergekommenes Aussehen, die

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