Nanking Road
Ausgelassenheit, mit der wir uns auf die Spenden gestürzt hatten.
»Wie die armen Kerle in den Lagern«, hörte ich einen unserer Retter murmeln.
»Nicht mal halb so schlimm …!«, wies ihn ein anderer zurecht.
Ich wusste, dass meine Eltern die Bemerkungen ebenfalls gehört hatten, aber sie ließen sich nichts anmerken. Keiner von uns hatte schon am Tag der Befreiung die Kraft, sich zu fragen, was die Soldaten gemeint haben konnten.
Für ausgemergelte Flüchtlinge kann es nichts Erstaunlicheres geben, als in die Obhut einer Großmacht zu geraten, die so reiche Erfahrung mit der Befreiung fremder Völker gewonnen hatte wie die Amerikaner in diesem letzten Jahr des Weltkriegs. Binnen weniger Stunden stampften sie Feldküchen und Lebensmittelausgaben, ein Lazarett und Sanitärcontainer aus dem Boden; wir brauchten nur von Station zu Station zu gehen.
Es war nicht zu erkennen, aus welchem Himmel die Güter und Gaben eigentlich gefallen waren, aber wir fielen von einem Schockzustand in den nächsten. Mamu und ich standen in der Warteschlange vor einem Container, in dem sich angeblich Duschen befanden, und nicht genug damit, dass wir das Plätschern und die Jubelrufe von drinnen bereits hören und langsam glauben konnten – auf einmal bewegten sich Soldaten unsere Reihen entlang und verteilten schon wieder Pakete!
Ich kippte fast hintenüber, als ich meins öffnete und hineinschaute. Es enthielt ein sauberes Handtuch und ein Täschchen mit Seife, Zahnbürste, Zahnpasta und einem Kamm.
Zwei Stunden später prasselte ein dünner, lauwarmer Wasserstrahl auf mich nieder und ich stand mit geschlossenen Augen eine volle Minute einfach da, träumte und erinnerte mich, bevor ich zu der duftenden Seife griff und mein schmutzstarrendes Haar zu bearbeiten begann. Das schaumige Wasser, das meinen Körper hinablief, war erst dunkelbraun, dann heller, dann ganz klar.
Ich bin wieder da, dachte ich.
Draußen verteilten die Amerikaner Kleiderspenden der internationalen Hilfsorganisation UNRRA , darunter chinesische Hemden und Pluderhosen, und ohne Bedauern tauschten Mamu und ich unsere zerlumpten europäischen Kleider gegen das einheimische Erscheinungsbild. Es stand uns ausgezeichnet und fühlte sich wunderbar leicht und luftig an. Zu dumm, dass wir nicht schon Jahre früher auf die Idee gekommen waren!
Mamu kicherte wie ein junges Mädchen, während wir auf Papa warteten. Es war unerhört, was das Gefühl von Sauberkeit aus einem Menschen macht – auch wenn wir, kaum zwei Minuten im Freien, schon wieder aus allen Poren schwitzten. Doch das machte nichts, selbst die makellosen Amerikaner hatten inzwischen nasse Flecken auf ihren Uniformen.
Als Papa aus der Dusche kam, wurden wir von einem erheiternden Anblick belohnt: Auch er hatte sich entschieden, in die Kleidung der Chinesen zu wechseln. »Wenn das Schule macht, bin ich out of business «, meinte er.
Vergnügt gingen wir nach Hause, ich zwischen meinen Eltern eingehakt, wir alle von Kopf bis Fuß neue Menschen.
Als mir plötzlich einfiel: »Wieso haben wir eigentlich noch nichts von Konitzers gehört?«
»Wahrscheinlich haben sie es nicht nötig, sich in die Wohlfahrtsschlangen zu stellen«, meinte Mamu. »Aber du hast Recht, es ist ein wenig seltsam. Was meint ihr, sehen wir mal nach?«
»Sicher ist sicher«, erwiderte Papa und wir bogen in die Kung Ping Road ein, vorbei an Trümmern, Misthaufen und schon begonnenem Wiederaufbau, vorbei am verwaisten Straßenflohmarkt der Emigranten.
Dass Konitzers Haus nicht getroffen worden war, wussten wir bereits, dennoch war mir, als wir direkt davor standen, plötzlich mulmig zumute. Ich trat einen Schritt zurück und blickte die Fassade hinauf. Sofort erkannte ich, was nicht stimmte.
»Seht mal!«, sagte ich erschrocken. »Die Vorhänge!«
Zu den allerersten Dingen, die die Einwohner Hongkous nach Kriegsende getan hatten, gehörte das Niederreißen von Verdunkelungsvorhängen und -pappen, um endlich wieder Tageslicht in die Wohnungen zu lassen. Konitzers mussten die Einzigen weit und breit sein, die dies versäumt hatten. Ihre Fenster waren zwei schwarze Höhlen, düster und leer.
Wie immer fasste Mamu sich als Erste und lief mit großen Schritten uns voran die Treppe hinauf. Mir fiel ein Felsbrocken vom Herzen, als ich Mischa und seinen Vater im matten Licht einer Glühbirne am Küchentisch sitzen sah. Dann erst erkannte ich den trostlosen Ausdruck in ihren Gesichtern, die hängenden Schultern.
»Victor«, sagte Mamu
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