Nanking Road
aufmerksam machen.
Open your hearts for15000 Shanghai refugees!
Aber die Quote für die jüdische Einwanderung in die Vereinigten Staaten, nach Australien und Palästina änderte sich nicht. Zwei Jahre nach Kriegsende saßen die meisten Flüchtlinge noch immer in Shanghai fest, und nur Deutschland war allmählich bereit, uns in größeren Zahlen aufzunehmen. Man musste nicht einmal von Ein- oder Auswanderung sprechen, sondern durfte unsere Rückreise Repatriierung nennen.
»Sehr geehrter Herr Dr. Mangold, mit Freude haben wir von Ihrem Interesse an einer Wiederaufnahme in die Anwaltskammer Berlin erfahren. Da Ihr Ausschluss von 1933 unwirksam ist, steht einer sofortigen Zulassung Ihrer geplanten Kanzlei nichts im Wege. Bitte lassen Sie uns wissen, ob wir bei der Suche nach geeigneten Räumlichkeiten oder bei der Zuteilung einer Wohnung behilflich sein können.«
Seit unserem Weggang aus Deutschland waren meine Eltern alt geworden, aber die Aussicht, wieder in seinem Beruf arbeiten zu können, hatte meinen Vater schlagartig belebt. Mamu, die ihn liebte, hatte sich nicht lange gewehrt, und ich? Ich ertappte mich bei dem Wunsch, dass meine Nachbarin Christine überlebt hatte, dass unser Haus in der Hermannstraße noch stand und die Birke im Hof. Ich wurde unruhig und traurig, wenn ich mir das zertrümmerte, verbrannte Berlin vorstellte, ich fürchtete mich vor dem Wiedersehen und meinem eigenen, unpassenden Mitleid. In meinem Reisegepäck steckte das Abschlusszeugnis der Kadoorie-Schule, ein Cambridge-Examen, das auch von deutschen Hochschulen akzeptiert wurde. Im Herbst wollte ich an der Humboldt-Universität Jura zu studieren beginnen, genau wie mein Vater vor über zwanzig Jahren. Aber was, wenn ich frühere Klassenkameraden in meinen Seminaren traf?
Als hätte ich laut gedacht, sagte plötzlich jemand: »Mir tun deutsche Kinder leid.«
Verblüfft sah ich das höchstens zehnjährige Mädchen an, das sich neben mir an die Reling klammerte und zu den Winkenden hinunterschaute. Es sprach Englisch mit mir.
»Ihre Eltern sind Mörder und laufen alle frei herum! Also, schön ist das nicht.«
Ihre Mutter sagte: »Ach, Evchen!«, und lächelte mich verlegen an. Ich spürte ein hohles Gefühl in der Magengegend und gleichzeitig größte Lust, die Kleine liebevoll an einem ihrer Zöpfe zu ziehen.
»Ich hatte eine kleine Cousine, die Evchen hieß«, sagte ich zu ihr.
Das Mädchen sah mich prüfend an. »Lebt sie noch?«
Ich schüttelte leicht den Kopf.
»Leben die anderen von euch noch? Unsere sind alle tot, bis auf Papa. Der ist nämlich – wie heißt das, Mami, wenn man nicht jüdisch ist?«
Ihre Mutter antwortete nicht.
»Mein Onkel wartet in Berlin auf uns«, sagte ich. »Wohin fahrt ihr?«
»Köln.« Sie zog die Nase kraus. »Heißt das eigentlich noch so, obwohl alles kaputt ist? Man könnte es doch jetzt anders nennen!«
Ein Rütteln durchlief das Schiff und ein leiser Aufschrei aus vielen Kehlen ertönte, als es sich rückwärts in Bewegung setzte – endlich, nach all dem Warten, und doch so plötzlich und unerwartet, dass mein Herz sich zusammenzog. Die Häuser der Uferpromenade, die Rikschas und Fußgänger, Busse, Straßenbahnen und schwarzen Rauchwölkchen, die von Hunderten Garküchen aufstiegen, wurden jäh von mir fortgezogen, erschreckend schnell waren Gesichter nicht mehr zu erkennen, verlor ich die Einmündung der Nanking Road in den Bund, nach der ich noch einmal hatte Ausschau halten wollen, aus den Augen.
Schon glitten die eisernen Bögen der Garden Bridge an uns vorüber. Irgendwo dahinter lag unser Haus, unser Dach, unsere Chusan Road. Vor zwei Stunden noch war ich sie ein letztes Mal entlangspaziert, vorbei am ehemaligen Café Piefke , das ein Musikgeschäft geworden war, nachdem Herr Simon – als Polizist einer der Ersten, die gebraucht wurden – schon im Vorjahr nach Berlin zurückgekehrt war. Vorbei an der Markthalle und den vielen Häusern, in die ich Papas Aufträge ausgetragen hatte. Vorbei an meiner unerwartet so geliebten Schule.
Zurück durch die Ward Road, in der unsere Shanghaier Jahre begonnen hatten. Zum Abschied zu Hus, die uns unter herzlichen Verbeugungen ein Päckchen für Onkel Erik in die Hand drückten. Erst wenige Minuten auf dem Schiff, konnte ich vertraute Gebäude im Häusermeer schon nicht mehr finden.
Das Shanghai, das uns aufgenommen hatte, war kalt, grau und verstörend gewesen. Das Shanghai, das uns gehen ließ, schenkte uns als letzten Blick ein
Weitere Kostenlose Bücher