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Nanking Road

Nanking Road

Titel: Nanking Road Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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und an der Reling litten meine Eltern und ich Höllenqualen, bis einer der Matrosen Konitzers mit seinem Schlagstock zu Hilfe eilte und sie anbrüllte, endlich an Bord zu gehen.
    Onkel Victors Nase blutete, als er die Gangway hinaufkam, und ich sah Tränen auf seinem Gesicht. Ich schubste mich zwischen Mitpassagieren hindurch, nahm die beiden am Eingang zum Oberdeck in Empfang und umarmte sie, während viele an Bord in spontanen Applaus ausbrachen.
    »Idioten!«, knirschte Onkel Victor. »In keinem anderen Land der Welt sind wir Juden jetzt sicherer als in Deutschland!«
    »Da haben Sie wohl Recht«, bekräftigte jemand. »In Australien hat es antijüdische Proteste gegeben, als das Parlament über die Aufnahme von Shanghai-Flüchtlingen beriet, aber das wollen diese Schwachköpfe ja nicht hören.«
    »Wir haben die historische Chance, Deutschland neu aufzubauen«, deklarierte Onkel Victor und betupfte seine Nase mit einem Taschentuch. »Wo hat es so etwas zuletzt gegeben? Wir werden mitbestimmen, wir werden eine Partei gründen, wir werden …«
    »Komm«, sagte ich zu der zitternden Tante Irma, »wir stehen dort drüben, wir haben einen ausgezeichneten Platz zum Winken.«
    »Jetzt haben wir uns nicht einmal von den Kindern verabschiedet«, weinte sie.
    Die Gangway war bereits vom Schiff weggerollt worden, bis wir uns den Weg zurück zu meinen Eltern gebahnt hatten, und trotz der Beschimpfungen war ein kleines Häuflein Menschen tapfer am Kai stehen geblieben, um uns zu verabschieden. Auch Mischa und Elwi hatten sich inzwischen vorgewagt, standen aber ein ganzes Stück von Judith entfernt.
    Wie konnte es anders sein? Zwischen Judith und dem frischgebackenen jungen Ehepaar Konitzer lagen Welten. Mischa und Elwi genossen das Nachtleben in den Clubs, tanzten, rauchten und tranken und hatten nicht die Absicht, die Zeit des Wartens auf Australien mit Grübeleien über die Zukunft zu verderben. Selbst jetzt, wo der Abschied von Mischas Eltern bevorstand, wirkten sie nicht besonders traurig – höchstens noch nicht ganz wach.
    Mischa rauchte eine Zigarette nach der anderen, während er zu uns hinaufsah. Unsere Blicke trafen sich, er grinste und griff sich mit einer Hand an den Kopf, um eine imaginäre Mütze abzunehmen und damit zu winken. Ich winkte zurück. Wahrscheinlich wunderten wir uns im Stillen immer noch, was aus dem jeweils anderen geworden war. Zu seiner Hochzeit hätte er mich trotzdem einladen können, wie ich fand, obwohl ich eingestehen musste, dass ich kaum zu seinen und Elwis Freunden gepasst hätte. Die beiden mussten Judith und mich für unglaubliche Langweiler halten.
    Denn auch Judith und ich hatten uns regelmäßig getroffen, um »auszugehen«, allerdings war es in unserem Fall fast immer die ruhige Ecke eines Cafés gewesen, wo wir stundenlang mit den Zeitungen zubrachten, die dort auslagen. Judith hatte einen alten Atlas aufgetrieben, der zwischen uns lag, während wir zu verstehen versuchten, was nach unserem Verschwinden im Ghetto eigentlich passiert war. Warum sich der Krieg so rasend schnell vom Pazifik bis nach Indien ausgebreitet hatte, an welcher Stelle die chinesischen Truppen wieder ins Spiel gekommen waren – aufseiten der Engländer in Birma, um von dort aus später China zurückzuerobern. Was die Sowjets im Schilde führten, die sich nicht entblödet hatten, unmittelbar vor der Kapitulationserklärung des Tenno den Japanern noch schnell den Krieg zu erklären. Wahrscheinlich hatten sie schon den nächsten Konflikt im Auge gehabt und keine Zeit verloren, sich mit den chinesischen Kommunisten im damals noch japanischen Mandschukuo zusammenzutun.
    Wie Miss Schmidt legten wir Papierschnipsel auf die Doppelseite in Judiths Atlas, um die Kämpfe nachzuvollziehen, und während die Karte Stück für Stück unter Schnipseln verschwand, schlug uns die Wahrheit über den Krieg entgegen: eine unfassbare Verschwendung.
    Verschwendung von Menschenleben – die japanischen Führer hatten ihre Soldaten für etwas anderes als einen Blitzkrieg nicht einmal ausgerüstet und sie zu Tausenden im Dschungel verhungern, verdursten oder an Insekten- und Schlangenbissen sterben lassen, nachdem sich die Briten ihr Kolonialreich nicht einfach so hatten abnehmen lassen.
    Verschwendung von Erde, die verbrannt, verwüstet oder gerodet worden war. Strände wurden umgepflügt, ganze Wälder gefällt, um noch auf den kleinsten Inseln einen Stützpunkt hochzuziehen. Landebahnen, wenige Male benutzt, rissen hässliche

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