Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Nanking Road

Nanking Road

Titel: Nanking Road Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne C. Voorhoeve
Vom Netzwerk:
hinabfahren – um zitternd wieder von vorn zu beginnen, weil sie nichts gefunden hatten.
    Über dem Schreien und Schimpfen hing ein stetes Murmeln; ich erkannte nicht, ob es Gebete, Namen oder eine Mischung aus beidem war. Als eine Frau bleich und stumm aus der Menge drängte, hatte ich Glück und wurde bis fast nach vorn geschoben. Jemand zerrte und knuffte, aber ich verteidigte meinen Platz, landete mit dem nächsten Schubs glücklich in der ersten Reihe und von dort binnen Minuten an der Stelle, wo die Listen mit den Babelsteins, Baums und Baruchs begannen.
    Ich holte Luft und tauchte das Blatt hinab. Es war, als sänke ich in tiefes Wasser. Druck legte sich auf meine Ohren und der Lärm ebbte ab; ich war allein mit den Namen, die mir entgegenschwammen, mich ansahen und weitereilten. Auch sie auf der Suche nach Lebenden.
    Bechstein, Albert, Salzburg, geb. 1924 (Bergen-Belsen)
Bechstein, Elisabeth, Mainz, geb. 1917
Bechstein, Erik, Berlin, geb. 1903 (Dachau)
Beckmann, Samuel, Darmstadt, geb. 1928 (Auschwitz)

25
    Die Marine Lynx war ein ehemaliger Truppentransporter und sah auch so aus. Die weiße Farbe war abgeplatzt, der spitz zulaufende Bug zerbeult, an etlichen Stellen war Rost zu erkennen und der Rauch aus ihrem Schornstein war pechschwarz. Aber immerhin schwamm die Marine Lynx über Wasser, während die einst so prachtvolle Scharnhorst auf dem Grund des gelben Meeres lag. Als Flugzeugträger Shinyo war sie Ende 1944 bombardiert worden und gesunken. Die italienische Conte Verde , die ich unzählige Male im Shanghaier Hafen hatte anlegen sehen und die dort von den Japanern vorübergehend sogar versenkt worden war, hatte es bei einem Luftangriff auf Kyoto erwischt; ihr Schwesterschiff Conte Rosso war schon 1941 vor Sizilien untergegangen, getroffen von einem britischen U-Boot.
    Zeit, das Äußere unseres Schiffes auf uns wirken zu lassen, hatten wir ohnehin nicht. Keine Rede von bewegenden Abschiedsszenen, wie sie beim Ablegen der Dampfer zu beobachten waren, die Amerika, Australien oder Palästina zum Ziel hatten. Auf uns wartete ein wütender Mob, der die Fäuste ballte, spuckte und tobte und von einem halben Dutzend Polizisten nur mit Mühe in Schach gehalten wurde.
    Man hatte uns bereits gewarnt, dass bei unserer Abreise »etwas Unschönes« passieren konnte und dass wir uns besser zu mehreren Familien zusammenschlossen, um zum Hafen zu fahren, aber damit hatte ich nicht gerechnet.
    »Verräter!«, schallte es uns entgegen, als wir die Holzkiste, die all unseren Besitz enthielt, aus der Rikscha hoben und zum Schiff trugen. Selbst Kinder wurden bespuckt; Kinder, die erst in Shanghai geboren oder noch so jung waren, dass sie sich vermutlich nicht einmal an Deutschland erinnerten. Sie kreischten vor Angst. Dem Mob war es egal.
    »Seid ihr wahnsinnig?«, schrie Judith, stürzte an mir vorbei und verschwand zwischen rudernden Armen und hasserfüllten Blicken, und ich hörte sie auf Hebräisch, Jiddisch und Englisch schimpfen, während wir von Matrosen die Gangway hinaufgescheucht wurden. Das Gebrüll wurde deutlich leiser, noch bevor wir oben angekommen waren. Judith war Mitglied der Betar , der Organisation für die Rückwanderung nach Palästina, die für einen eigenen jüdischen Staat kämpfte. Jeder in der Menge kannte sie.
    Ich stand an der Reling, starrte hilflos zu ihr hinunter und rang mit den Tränen. Wir hatten uns nicht einmal verabschiedet.
    Plong! Plong! , machte es, als Steine gegen das Schiff flogen. Einige Matrosen mit Schlagstöcken eilten die Gangway hinunter und wurden mit »Nazi!«-Rufen empfangen, obwohl es sich bei der Besatzung der Marine Lynx um Amerikaner handelte.
    Währenddessen trafen die letzten Passagiere ein. Ich hielt den Atem an, als Tante Irma und Onkel Victor aus ihren Rikschas stiegen. Hinter ihnen kamen Mischa und Elwi und stiegen ebenfalls aus, blieben aber zögernd am Straßenrand stehen, als wollten sie zu verstehen geben, dass sie nicht dazugehörten.
    Ich schämte mich für sie. Onkel Victor hingegen handelte ganz nach meinem Herzen, als er geradewegs auf die Protestierer zuging und einen von ihnen am Kragen packte.
    »Das alte Deutschland gibt es nicht mehr, lest ihr Idioten keine Zeitung?«, brüllte er, was allerdings nur zur Folge hatte, dass einige der Männer ihn sofort umringten, an seinen Kleidern rissen und versuchten, ihn zu Boden zu werfen.
    Onkel Victor wehrte sich wie ein Gladiator. »Papi!«, schrie Tante Irma und stürzte sich ebenfalls ins Handgemenge,

Weitere Kostenlose Bücher