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Nanking Road

Nanking Road

Titel: Nanking Road Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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Gängen zog sich das Festessen in die Länge, gefolgt von den unvermeidlichen, demütigenden Minuten zum Schluss, als man an den deutschen Tischen aufstand und mit vorgerecktem rechtem Arm die Nationalhymne anstimmte. Deutschland, Deutschland über alles. Unverhohlene Blicke richteten sich auf uns Sitzenbleiber. Wir wissen, wer ihr seid!
    Aber die Deutschen waren mir plötzlich egal, meine Gedanken kreisten um nichts anderes mehr als die Namen der Töchter von Onkel Erik und Tante Ruth, die jetzt in dem fremden Notizbuch standen. Um die beiden kleinen Nervensägen, von denen ich mich nicht verabschiedet hatte und die ich, wenn ich ehrlich war, selbst in tausend Kilometern Entfernung noch nicht angefangen hatte, lieb zu gewinnen. Um Evchen und Betti, 5 years und 4 years, und das Wort help.
    Erst in der Kabine erfuhren wir, worüber Papa und die Engländer gesprochen hatten.
    »In England gibt es Aufrufe im Radio, jüdische Kinder in englische Familien aufzunehmen«, begann mein Vater und ich unterbrach: »Aber das wissen wir doch! Das sind die Kindertransporte, für die Bekka angemeldet ist!«
    »Richtig, Ziska. Aber es gibt viel mehr Kinder, die nach England wollen, als Familien, die sie aufnehmen können. Mr Tatler sagt, es stünden schon Hunderte Namen auf den Wartelisten und es werden täglich mehr …«
    Mir verschlug es die Sprache. Bekka hatte mir unter dem Siegel größter Verschwiegenheit von den Kindertransporten erzählt und schlagartig wurde mir klar, warum.
    »Tatlers kennen eine Familie, die sich bereit erklärt hat, ein Kind aufzunehmen«, sagte Papa.
    »Aber Franz!«, rief Mamu schockiert. »Du glaubst doch nicht, Ruth würde die Kleinen nach England schicken – allein!«
    »Und wenn es ihre einzige Möglichkeit ist?«, erwiderte Papa. »Wenn diese Familie noch kein Kind zugeteilt bekommen hat … eine persönliche Einladung wäre wie eine Fahrkarte.«
    In meinen Ohren begann es zu summen, meine Fingerspitzen prickelten, meine Füße standen auf tausend Nadeln. »Und Bekka?«, hörte ich mich fragen. »Und Thomas?«
    Papa sah mich ernst an. »Ich habe auch an die beiden gedacht«, bekannte er. »Aber wir wollen nicht, dass Mr Tatlers kleine Liste am Ende auch zu lang wird, nicht wahr?«
    Mamu wiederholte eindringlich: »Nein, Franz. Evchen und Betti sind zu klein!«
    »Sind sie nicht. Kinder dieses Alters werden mitgenommen, das Mindestalter ist vier!«
    Mamu schossen Tränen in die Augen und sie schüttelte nur noch den Kopf.
    »Papa«, vergewisserte ich mich, »wenn Evchen und Betti im Notizbuch von Mr Tatler stehen, kommen sie dann auf eine bessere Liste als Bekka?«
    »So kann man es ausdrücken«, erwiderte mein Vater, bevor er zu Mamu sagte: »Du musst an Ruth schreiben. Morgen kommen wir nach Port Said, dort wird Post aufgenommen.«
    Langsam, ganz langsam ließ meine Mutter sich aufs Bett sinken und drehte sich zur Wand.
    Mr Tatlers Liste. Es war nicht schwer zu begreifen, warum Papa nur Evchen und Betti daraufgesetzt hatte, aber Mr Tatlers Liste würde mir nicht mehr aus dem Kopf gehen – nicht, solange noch ein Name fehlte.

6
    Im Gegensatz zu uns durften sich die Passagiere der ersten Klasse frei an Bord bewegen, und am Vormittag des ersten Weihnachtstages wagten sich Mischa und seine Mutter zu uns hinunter. Unsere Kabinennummer hatten sie in der Bordzeitung gefunden.
    »Ach, hier ist es doch auch ganz hübsch!«, meinte Frau Konitzer, als sie unsere winzige Unterkunft sah, und da es ihr Ernst zu sein schien, erwiderte Mamu ohne Verdruss: »Nicht zu vergleichen mit der ersten Klasse, nehme ich an.«
    »Nein«, entgegnete Frau Konitzer traurig, »wir haben zum Glück mehr Platz. Mein Mann kommt nämlich keinen Schritt aus der Kabine. Er ist der Einzige da oben mit kahlem Kopf.«
    »Herrje«, sagte Mamu und legte spontan eine Hand auf Frau Konitzers Arm. Sie wirkte erschrocken – als erinnerte sie sich erst jetzt daran, dass Konitzers vor all dem Glück, das sie auf der Reise begleitete, dieselben Ängste ausgestanden hatten wie wir.
    »Wir lassen Papa das Essen in die Kabine bringen«, sagte Mischa. »Mama und ich gehen allein in den Speisesaal, wir tun, als sei er krank. Nicht mehr lange«, fügte er mit einem ziemlich ungenierten Blick auf das Haupt meines Vaters hinzu, als dividiere er die Höhe der Stoppeln durch die bisherige Dauer unserer Reise. »Höchstens zwei Wochen, dann sieht man es ihm nicht mehr an.«
    »Stören wir?«, fragte Mischas Mutter und wies auf den Schreibblock, den

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