Nanking Road
Mamu beiseitegelegt hatte, als der Besuch unsere Kabine betrat.
»Nein, nein«, erwiderte Mamu rasch und schob den Block unter ihr Kopfkissen. Sie hatte begonnen, einen Brief an Tante Ruth zu schreiben, aber viel stand noch nicht auf dem Papier. Schon im ersten Absatz – Teilnahme und Ermutigung wegen der Verhaftung Onkel Eriks – war sie ins Stocken geraten, weil ihr keine Worte einfielen, die meiner Tante ein Trost gewesen wären.
Ob Mr Tatler jetzt ebenfalls einen Brief schrieb? Gegen Nachmittag sollten wir in Port Said ankommen und ich stellte mir vor, wie er vielleicht just in diesem Augenblick die Namen von Evchen und Betti aus seinem Notizbuch auf einen Briefbogen übertrug. Wenn ihr nicht bereits ein Kind aufgenommen habt, sucht euch bitte eins von diesen aus …
Ratlos schielte ich nach der Spitze des Schreibblocks, die unter Mamus Kopfkissen hervorschaute. Kurz bevor es an unsere Tür geklopft hatte, hatte ich Mamu ebenfalls um ein Blatt Papier gebeten – um Bekka zu schreiben, wie ich vorgab, obwohl ich insgeheim befürchtete, dass man mir mein Vorhaben, so intensiv, wie ich seit dem letzten Abend darüber grübelte, womöglich bereits von der Stirn ablesen konnte.
Was würde ich meinen Eltern sagen, wenn sie je dahinterkamen? Etwa: »Diese Familie hätte sich sowieso ein Kind ausgesucht, das schon Englisch kann?« Oder: »Ich habe nur einen Namen aufgeschrieben, obwohl es zwei hätten sein müssen?«
Ich versuchte, nicht an Thomas zu denken, den schmalen, stillen, freundlichen Thomas, aber zwecklos, als wollte er sich mir in Erinnerung rufen, hatte ich plötzlich sogar wieder die Musik im Ohr, die er an unserem letzten Abend gespielt hatte.
Nein, dachte ich entschlossen, es muss bei einem Namen bleiben! Um einen Platz für Thomas kann Bekka sich kümmern, wenn sie erst in England ist … und für Evchen und Betti, wenn Tante Ruth will …
Ich hatte keinen Zweifel, dass es meiner Freundin gelingen würde. Wenn ich ihr schrieb, dass jetzt alles von ihr abhing, würde sie Himmel und Hölle in Bewegung setzen.
Und genau das, beschloss ich, würde ich meinen Eltern sagen, wenn sie erfuhren, was ich getan hatte: Bekka nach England zu schicken, war gleichbedeutend mit der Schaffung von mindestens drei weiteren Plätzen auf dem Kindertransport!
Ob Konitzers mich gestört hatten mit ihrem unerwarteten Besuch, fragte niemand. Kaum hatte Mamu angefangen, ein Blatt für mich aus ihrem Block zu reißen, kaum schien alles wunderbar klar, simpel und einleuchtend, klopfte es an der Tür. Augenblicklich geriet ich wieder in Zweifel, sowohl über meinen Plan als auch über meine Ausreden.
»Wir wollten fragen, ob Sie irgendetwas benötigen«, sagte Mischas Mutter und errötete ein wenig. »Oder hat man Ihnen gesagt, dass Sie ein Bordgeld …?«
»Oh ja«, erwiderte Mamu rasch, »über das Bordgeld wussten wir Bescheid«, aber ihr Gesicht umwölkte sich sofort.
Das Bordgeld – einer der Gründe, weshalb meine Mutter eine Passage auf einem deutschen und nicht, wie die meisten jüdischen Auswanderer, auf einem neutralen italienischen Dampfer gebucht hatte – war ein weiterer wunder Punkt dieser Reise. Alle Passagiere hatten beim Erwerb der Schiffskarten mehrere hundert Reichsmark von der Bank an die Reederei überweisen lassen dürfen. In einer Schatulle in unserem Kleiderschrank lag ein ganzes Bündel Scheine, das uns am zweiten Vormittag ausgehändigt worden war und das in der Summe vollkommen ausgereicht hätte, den Container mit all unserem Besitz auszulösen – aber wir durften es nur an Bord ausgeben. Für Süßigkeiten, für Postkarten, für Kosmetik und Reisebedarf aller Art, der in den Bordläden angeboten wurde … aber außerhalb der Scharnhorst war das Geld wertlos, markiertes Papier, und was wir nicht ausgaben, würde am Ende der Reise konfisziert werden.
»Wenn ich Ihnen einen Rat geben darf«, bemerkte Frau Konitzer, »kaufen Sie hier an Bord Kurzwaren. Nähnadeln, Garn, Scheren, Rasierklingen. In Shanghai lässt sich das eine oder andere weiterverkaufen. Und oben bei uns …« Sie zögerte kurz und setzte hinzu: »Einige Passagiere der ersten Klasse kaufen Schmuck und Pelze an. Zu Schleuderpreisen natürlich, aber wenn Sie es dennoch weitersagen möchten … oder vielleicht selbst etwas haben …«
»Ich hätte da einen Persianer«, erwiderte Mamu, den Tränen nahe. »In unserem Container.«
Frau Konitzer umarmte meine Mutter, was diese sich zu meiner Überraschung gefallen
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