Nanking Road
Trick für unsere Verwandten gegeben hätte, von dem uns bloß wieder niemand erzählt hatte!
Mischas Antwort musste ich erst einmal verdauen. »Mama ist nicht jüdisch«, erklärte er.
»Wie … nicht jüdisch?«, wiederholte ich verdutzt.
Mischa sah mich spöttisch an. »Das weißt du nicht …? Bis vor ein paar Jahren war es nicht verboten, einen Juden zu heiraten.«
Links und rechts von uns stellten sich weitere Passagiere an die Reling, erfreut, dass es zum ersten Mal seit zwei Tagen wieder etwas anderes zu sehen gab als Wasser. Immer mehr kamen hinzu und schauten durch ihre kleinen Fernrohre – meist das gleiche Modell, im Bordladen erworben, und wenngleich niemand auf uns achtete, verstummte unser Gespräch augenblicklich. Auf der Seite der Deutschen achtete man besser auf seine Worte.
Die Scharnhorst war keineswegs das einzige Schiff auf dem Weg zum Suez-Kanal. Auf dem Wasser erkannten wir Passagier- und Containerschiffe, die alle denselben Kurs hatten. Ein langer Frachter mit britischem Hoheitszeichen war uns am nächsten und wir nahmen spürbar Fahrt auf, um an ihm vorbeizukommen. Aus der ersten Klasse wurde unser Schiff angefeuert: Deutschland, Deutschland, Deutschland!, und über unseren Köpfen brach Jubel aus, als wir an den Engländern vorbeizogen.
Bestimmt gab es vor der Einfahrt in Port Said bereits eine Warteschlange. Mein Magen zog sich zusammen, als ich wieder an den Hafen dachte.
»Wenn der Suez-Kanal nicht wäre«, bemerkte Mischa, »würde unsere Reise doppelt so lange dauern, denn dann müssten wir ganz außen herum um Afrika …«
»Mischa«, unterbrach ich, »du hast nicht zufällig ein Stück Papier und einen Stift?«
»Einen Moment«, erwiderte er sofort und ließ mich stehen, schlüpfte unter der Absperrungskette zum Oberdeck hindurch und lief die Treppe hinauf. Als er zwei Minuten später zurückkam, hielt er mir einen dicken weißen Briefbogen mit dem Emblem des Norddeutschen Lloyd hin, dazu einen Bleistift. »Oben bei uns gibt es alles«, erklärte er nicht ohne Stolz.
Irgendwie hatte ich nicht damit gerechnet, dass es so schnell gehen würde.
»Und?«, fragte Mischa erstaunt, als ich mit Papier und Stift dastand. »Was jetzt?«
Ehrlich gesagt, fragte ich mich das selbst. Natürlich wollte ich Bekkas Namen auf das Papier schreiben und es Mr Tatler geben, bevor er in Port Said seine Post aufgab. Natürlich hatte ich mir seine Kabinennummer bereits aus der Bordzeitung herausgesucht und war auf alles bestens vorbereitet, auch darauf, dass ich nicht einmal Englisch können musste, damit Mr Tatler verstand, was ich von ihm wollte.
Aber etwas zu beschließen und es tatsächlich zu tun, das waren nun einmal zwei völlig unterschiedliche Dinge.
»Was würdest du tun«, fragte ich Mischa, »wenn du Leute bestimmen dürftest, zwischen denen ein Preis verlost wird? Würdest du mehr oder weniger Namen in die Trommel geben?«
»Weniger natürlich«, sagte Mischa wie aus der Pistole geschossen. »Nur die Namen meiner drei besten Freunde.«
Das hatte ich befürchtet. Ich fühlte, wie meine Schultern sanken.
»Was ist denn der Preis?«, fragte Mischa leise.
»Es kann sein …«, flüsterte ich, »ein Platz auf einem Kindertransport.«
Mischa sah mich groß an. »Aber das wird doch nicht verlost !«, sagte er ungläubig.
Kurz entschlossen packte ich ihn am Arm, zog ihn zur Treppe, wo uns niemand zuhörte, und erzählte flüsternd von Mr Tatlers Liste. Gemessen daran, wie viele Stunden ich das Problem bereits wälzte, war mein Dilemma unerwartet leicht in Worte zu fassen: dass ich meinen Cousinen auf keinen Fall schaden durfte, aber doch auch meiner besten Freundin helfen musste, selbst wenn Papa es mir so gut wie verboten hatte.
Als ich geendet hatte, antwortete Mischa: »Weißt du, was ich glaube? Wenn eine Familie ein Kind von Mr Tatlers Liste ausgesucht hat, dann wirft sie sie nicht weg. Dann gibt sie sie weiter an eine andere Familie. Genauso würden meine Eltern es machen. Deine etwa nicht?«
Ich holte zwei Mal tief Luft. Ich war so erleichtert, dass ich für Augenblicke meine Beine nicht mehr spürte.
»Du hast Recht!«, flüsterte ich. »So eine Liste würde doch niemand wegwerfen!«, und schon saß ich auf der untersten Treppenstufe, legte das Papier auf die Stufe darüber und sah meine Hand in blitzschnellen Bögen die Worte schreiben:
Rebekka Liebich, 11 years, Silbersteinstraße 20, Berlin-Neukölln.
Und noch während die Worte entstanden, spürte ich, dass es das
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